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Marias Testament

Marias Testament

Titel: Marias Testament
Autoren: Colm Tóibín
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uns wollen könnten, wenn es vorbei wäre, und mehr als alles andere, um mich, und wenn auch nur für eine einzige Sekunde, von dem heillosen Grauen abzulenken, das sich indessen ereignete.
    Sie interessieren sich nicht für meine Angst und die Angst all jener, die um mich waren und ahnten, dass irgendwo Männer mit dem Befehl warteten, uns gleichfalls zu umzingeln, falls wir versuchen sollten, uns zu entfernen, sodass keine Aussicht bestand, dass man uns nicht festhalten würde.
    Der zweite, der kommt, hat eine andere Art, seine Gegenwart bemerkbar zu machen. Es ist nichts Mildes an ihm. Er ist ungeduldig, gelangweilt und hat alles im Griff. Auch er schreibt, aber schneller als der andere, mit gerunzelter Stirn, seinen eigenen Worten beifällig zunickend. Er ist reizbar. Ich kann ihn schon dadurch aufbringen, dass ich einmal durchs Zimmer gehe, um eine Schüssel zu holen. Es fällt mir manchmal schwer, der Versuchung zu widerstehen, ihn anzusprechen, obwohl ich weiß, dass der bloße Klang meiner Stimme ihn mit Argwohn erfüllt oder etwas wie Abscheu in ihm weckt. Aber so wie sein Gefährte muss er mir zuhören, dazu ist er nun einmal hier. Er hat keine Wahl.
    Bevor er aufbrach, sagte ich zu ihm, dass ich mein Leben lang, wann immer ich mehr als zwei Männer zusammen sah, Dummheit gesehen hätte und Grausamkeit, aber das Erste, was mir stets ins Auge fiel, sei ihre Dummheit gewesen. Er saß mir gegenüber und wartete darauf, dass ich etwas anderes sagte, und seine Geduld erschöpfte sich, da ich nicht zu seinem erwünschten Thema zurückkehren wollte: zu dem Tag, an dem unser Sohn verlorenging, und wie wir ihn wiederfanden und was gesagt wurde. Ich kann den Namen nicht aussprechen, er will nicht herauskommen, denn etwas würde in mir zerbrechen, wenn ich den Namen ausspräche. Also nennen wir ihn »er«, »mein Sohn«, »unser Sohn«, »der, der hier war«, »euer Freund«, »der, für den du dich interessierst«. Vielleicht werde ich den Namen aussprechen, bevor ich sterbe, oder werde es fertigbringen, ihn in einer dieser Nächte zu flüstern, aber ich glaube es kaum.
    Er scharte, sagte ich, eine Gruppe von Nichtsnutzen um sich, die wie er selbst bloße Kinder waren, oder Männer ohne Väter, oder Männer, die einer Frau nicht in die Augen sehen konnten. Männer, die man in sich hineinlächeln sah, oder die schon in ihrer Jugend alt geworden waren. Nicht einer von euch war normal, sagte ich und sah ihm zu, wie er seinen halb leer gegessenen Teller wie ein trotziges Kind von sich stieß. Ja, Nichtsnutze, sagte ich. Mein Sohn versammelte Nichtsnutze um sich, obwohl er selbst, trotz allem, keiner war, er hätte alles machen können – er hätte sogar schweigen können, er besaß die Fähigkeit, die am seltensten ist, mit Leichtigkeit allein sein zu können –, er konnte eine Frau so ansehen, dass sie sich ihm gleichwertig fühlte, und er war dankbar, wohlerzogen und intelligent. Und das alles, sagte ich, setzte er dafür ein, eine Gruppe von Männern, die ihm vertraute, durch die Gegend zu führen. Ich habe für Nichtsnutze nichts übrig, sagte ich, aber wenn man zwei von euch zusammensteckt, zeigt sich nicht nur Dummheit und die gewohnte Grausamkeit, sondern es entsteht auch ein verzweifeltes Bedürfnis nach etwas anderem. Versammle Missratene, sagte ich und schob ihm den Teller wieder zu, und du bekommst absolut alles – Furchtlosigkeit, Ehrgeiz, was auch immer – und bevor es sich auflöst oder wächst, wird es zu dem führen, was ich gesehen habe und womit ich jetzt leben muss.
    *
    Meine Nachbarin Farina lässt Dinge für mich da. Und manchmal bezahle ich sie. Anfangs ging ich nicht an die Tür, wenn sie anklopfte, auch wenn ich das, was sie für mich daließ – Obst oder Brot oder Eier oder Wasser –, hereinnahm. Wenn ich später an ihrer Tür vorbeikam, sah ich keinen Grund, sie anzusprechen oder so zu tun, als wüsste ich, wer sie war. Und ich war bedacht, das Wasser, das sie daließ, nicht anzurühren. Ich ging zum Brunnen und holte mir mein eigenes, auch wenn mir die Arme von der Anstrengung anschließend wehtaten.
    Als meine Besucher kamen, fragten sie mich, wer sie war, und ich war froh, sagen zu können, dass ich das weder wusste noch herausfinden wollte, und ebenso wenig verstand, warum sie Dinge für mich hinterließ, außer dass es ihr einen Vorwand dafür lieferte, sich an einem Ort herumzudrücken, wo sie unerwünscht war. Ich müsse vorsichtig sein, sagten sie, und es ging mir leicht von der
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