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Marias Testament

Marias Testament

Titel: Marias Testament
Autoren: Colm Tóibín
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Beobachten sah. Markus sagte, dass er nah beim Teich stand, nah genug, um zu sehen, dass die allgemeine Aufmerksamkeit diesem Idioten galt, der, halb Bettler, halb Schwachsinniger, laut hinausposaunte, er sei seit vielen Jahren verkrüppelt. Markus hörte meinen Sohn sprechen, während die Umstehenden näher kamen. »Willst du gesund werden?«, dröhnte er. Manche lachten und ahmten seine Stimme nach, aber andere winkten weitere Leute hinzu, sie sollten leise näher kommen zur Stimme, die da in der Mitte nahe des Teiches donnerte: »Willst du gesund werden?« Und der Idiot beharrte darauf, dass der Engel bald käme, um das Wasser zu bewegen, aber da er keinen Knecht habe, der ihm helfen könne, und nur wer als Erster ins Wasser steige, geheilt werden könne, sei er dazu verdammt, bis zum Ende seiner Tage gelähmt zu bleiben. Und wieder erhob sich die Stimme, und diesmal lachte oder spottete niemand. Es herrschte vollkommenes Schweigen ringsum, als die Stimme sagte: »Stehe auf, nimm dein Bett und gehe hin!«
    Markus wusste nicht, wie lange das Schweigen anhielt; er konnte den Mann daliegen sehen, und dann drängte die Menge zurück, und noch immer sprach keiner ein Wort, während der Mann aufstand und mein Sohn zu ihm sagte, er solle fortan nicht mehr sündigen. Und dann entfernte sich der Mann und ließ die Bahre zurück. Von einer Menge gefolgt machte er sich auf zum Tempel, und auch mein Sohn und seine Freunde folgten ihm nach. Sie stifteten Unruhe an einem Sabbat. Im Tempel kümmerte es niemanden, wer der Mann war oder warum er gehen konnte, aber es kümmerte sie, dass er herumschrie und mit dem Finger zeigte und dass ihm eine große Menschentraube folgte und dass es Sabbat war. Niemand, sagte Markus, hegte den geringsten Zweifel, wer für diesen Bruch des Sabbats verantwortlich war. Mein Sohn, sagte Markus, wurde einzig deswegen nicht an Ort und Stelle festgenommen, weil man ihn beobachten und herausfinden wollte, wohin er gehen würde und wer seine Hintermänner waren. Die Obrigkeit, die jüdische wie die römische, war neugierig, wohin er sie führen würde, was geschehen würde, wenn man sicherstellte, dass er nirgendwo ohne Spione und Beobachter hinging.
    »Können wir irgendetwas tun«, fragte ich, »um ihn aufzuhalten?«
    »Ja«, sagte Markus. »Wenn er nach Hause zurückkäme, allein, und sich nicht einmal auf der Straße sehen ließe, nicht einmal arbeitete oder Besucher empfinge, nur in diesen Zimmern bliebe, verschwinden würde, dann könnte ihn das vielleicht retten, aber selbst dann wird er weiter unter Beobachtung stehen; nichts anderes kann ihm noch helfen, und wenn es passiert, wenn er zurückkommt, dann muss es bald sein.«
    *
    Und so entschied ich, nach Kana aufzubrechen, zur Hochzeit der Tochter meiner Cousine, obwohl ich eigentlich bereits beschlossen hatte, nicht hinzugehen. Schon in meiner Jugend hatte ich eine Abneigung gegen Hochzeiten: das viele Lachen und Reden und die Vergeudung von Essen und Wein, der in Strömen floss; und Braut und Bräutigam – eher wie Opfer anzusehen, die um Geldes oder Ansehens oder des Familienerbes willen dargebracht werden sollten –, die aus der Masse herausgehoben und wegen etwas gefeiert wurden, das keinen etwas anging, und dann unter lautstarken Bekundungen von Frohsinn und Trunkenheit und unnötigen Menschenansammlungen miteinander vermählt wurden. Es war erträglicher, wenn man jung war, denn irgendwie brachten diese Tage voll lächelnder Leute und der allgemeine Irrsinn die Augen dazu, so lange hin und her zu schießen, bis man sogar einen Hampelmann lieb gewinnen konnte, wenn er nur nah genug an einen herankam.
    Ich ging nicht nach Kana, um die prunkvolle Vereinigung von zwei Menschen zu feiern, deren einen ich kaum und den anderen überhaupt nicht kannte, sondern um zu versuchen, meinen Sohn wieder nach Haus zu bringen. Tagelang rief ich mir meine Kraft vor Augen und arbeitete mit meiner Stimme, übte, sie leise und eindringlich klingen zu lassen. Ich legte mir für den Fall, dass Versprechen nichts halfen, Warnungen und Drohungen zurecht. Es musste, dachte ich, etwas geben, das wirken würde. Einen Satz. Ein Versprechen. Eine Drohung. Eine Warnung. Und wie ich da saß, war ich mir sicher, es geschafft zu haben; ich hatte mir eingeredet, dass er mit mir zurückkommen würde, dass er genug vom Wanderleben hatte und dass er jetzt gebrochen war, oder dass ich ihn mit ein paar Worten brechen könnte.
    Als ich ein paar Tage vor der Hochzeit in Kana
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