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Marias Testament

Marias Testament

Titel: Marias Testament
Autoren: Colm Tóibín
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eintraf, wurde mir klar, oder beinah klar, dass ich umsonst gekommen war. Es war von nichts anderem die Rede als von ihm, und der Umstand, dass ich seine Mutter war, bewirkte, dass ich auffiel und angesprochen wurde.
    Nahe dem Haus meiner Cousine Mirjam war das Haus des Lazarus. Ich kannte ihn schon seit seiner frühesten Kindheit. Unter allen unseren Kindern war er von dem Tag an, da er zur Welt kam, das schönste. Er schien zu lächeln, bevor er irgendetwas anderes machte. Wenn wir Ramira, seine Mutter, besuchten, legte sie immer den Finger an die Lippen und führte uns zum hinteren Teil des Zimmers, wo sein Bettchen stand, und wenn wir hineinschauten, schien er schon zu lächeln. Es brachte Ramira manchmal fast in Verlegenheit, denn wenn wir sie besuchten, merkten wir, dass nicht nur wir das Gefühl hatten, wir seien ebenso gekommen, um zu sehen, wie der Junge gehen und sprechen lernte, wie um seine Eltern oder seine Schwestern zu sehen. Kaum sahen ihn andere Kinder, wollten sie ihn bei ihrem Spiel dabeihaben; was immer sie gerade machten, wurde, sobald er da war, friedvoll und harmonisch. Jetzt weiß ich, dass er als Einziger von uns allen etwas Besonderes besaß: Er war von der Dunkelheit oder der Furcht – von dem, was während des dunkelsten Teils der Nacht oder am Ende des Sabbats in unseren Geist kommt und dort lauernd zurückbleibt – nie heimgesucht worden. Es kamen Jahre, in denen ich ihn nicht sah, die Jahre, die seine Familie in Bethanien verbrachte, bevor sie wieder nach Kana zog, aber ich erhielt Nachrichten von ihnen, und es war immer etwas über ihn dabei – dass er zu einem goldenen und anmutigen Jüngling heranwuchs, ernsthaft und freundlich, und dass sie tief bekümmert waren, weil sie wussten, dass sie es nicht schaffen würden, ihn zwischen den Olivenhainen und den Obstbäumen zu halten, dass ihm etwas widerfahren, dass eine große Stadt ihn rufen würde, dass der Zauber, den er ausstrahlte, und seine immer männlichere Schönheit eine andere Umgebung brauchen würden, um zu voller Blüte gelangen zu können.
    Aber niemand ahnte, dass seine Bestimmung das Reich des Todes sein würde, dass all seine Anmut und Schönheit, seine ganze Aura des Besonderen, die wie ein Geschenk der Götter an seine Eltern und seine Schwestern erschien, dass dies alles ein böser Scherz war, als würde man vom Geruch eines köstlichen Essens oder der Aussicht auf Überfluss beglückt, wenn es doch tatsächlich nur etwas Vorübergehendes, für andere Bestimmtes war. Ich weiß, dass er ein, zwei Tage lang vor Schmerzen stöhnte, es ihm dann besser ging und dann die Schmerzen wiederkamen, und sie kamen in seinen Kopf, und sie dauerten oft die ganze Nacht an, und dass er laut schrie, er verspreche, immer gut zu sein. Aber es war nichts zu machen, in seinem Kopf wuchs Gift heran, er begann schwächer zu werden, und er ertrug kein Licht, nicht einmal einen Hauch von Licht. Es genügte, dass die Tür aufging und jemand ins Zimmer kam, damit er laut aufschrie. Ich weiß nicht, wie lang das so weiterging; ich weiß, dass sie ihn pflegten, und ich weiß auch, dass es so war, als sei eine goldene Ernte vom dunklen Wind einer Nacht niedergemäht worden, oder als sei ein Pesthauch in die Bäume gefahren und habe die Früchte schrumpeln lassen, und es galt als Unheil, auch nur seinen Namen auszusprechen oder nach ihm zu fragen.
    Also fragte ich nicht nach Neuigkeiten über ihn, wohl aber dachte ich häufig an ihn, besonders während ich meine Vorbereitungen für die Reise nach Kana traf. Ich fragte mich, ob ich ihn oder seine Schwestern besuchen sollte. Als ich aufbrach, wusste ich nicht, dass er schon gestorben war.
    Als ich in Kana ankam, herrschte in den Straßen eine seltsame Leere. Ich erfuhr später, dass ein paar Tage zuvor die Vögel für zwei Stunden oder länger verschwunden waren, als wäre es Nacht oder als spielte sich gerade eine Katastrophe ab, die Gefahr für sie bedeutete und sie veranlasste, sich in ihre Nester zurückzuziehen. Und alles hielt irgendwie atemlos an sich, kein Wind, kein Rauschen in den Baumkronen, keine Geräusche von Tieren. Katzen verzogen sich, und die Schatten – selbst die Schatten – blieben so, wie sie waren. Lazarus war eine Woche zuvor gestorben, und dann, als er vier Tage in seinem Grab lag, waren mein Sohn und seine Anhänger mit ihren hochtrabenden Sprüchen in Kana eingetroffen. Und als mein Sohn ihnen befahl, Lazarus wieder auszugraben, ihn aus seinem Grab zu holen, hatten sich
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