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Marias Testament

Marias Testament

Titel: Marias Testament
Autoren: Colm Tóibín
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alle geweigert. In den letzten Tagen vor seinem Tod war Lazarus friedvoll und schön geworden. Niemand wollte ihn jetzt anrühren, ihn in der Erde stören, aber so rasend war die Aufregung über die Ankunft der Horde, dass seinen Schwestern keine andere Wahl blieb. Die Menge hatte Nachrichten von einem Blinden mitgebracht, der plötzlich sehen konnte, und von einer Versammlung, bei der es nichts zu essen gab und in der, wie durch ein Wunder, der Überfluss eingekehrt war. Es war von nichts anderem als von Macht und Wundern die Rede. Es war so, als durchstreifte die Bande das Land wie ein Schwarm Heuschrecken auf der Suche nach Bedürftigkeit und Not.
    Aber keiner von ihnen glaubte, dass jemand imstande sei, Tote zu erwecken. Auf die Idee war niemand gekommen. Die meisten von ihnen glaubten, so hörte ich jedenfalls später, dass man es nicht einmal versuchen sollte, dass es eine Verhöhnung des Himmels darstellen würde. Sie meinten – so wie auch ich meinte und noch immer meine –, dass niemand sich an dem Absoluten, das der Tod bedeutet, zu schaffen machen sollte. Der Tod braucht Zeit und Schweigen. Die Toten soll man mit ihrer neuen Gabe oder ihrer neuen Freiheit in Ruhe lassen.
    Ich weiß aus Markus’ Erzählung, dass sich Maria und Martha, die zwei Schwestern des toten Jungen, meinem Sohn an die Fersen hefteten, sobald sie die Geschichten vom Lahmen, der gehen, und dem Blinden, der sehen konnte, gehört hatten. Und mir ist klar, dass sie in diesen letzten Tagen des Schweigens absolut alles getan hätten. Sie sahen hilflos zu, wie ihr Bruder ohne großes Aufbegehren dem Tod entgegenglitt, gleichwie eine Quelle unter der Erde verborgen zu fließen beginnt und Wasser durch eine Ebene hin zum Meer führt. Sie hätten alles getan, um den Bach umzulenken, damit er durch die Ebene mäandert und dort unter der Wucht der Sonne vertrocknet. Sie hätten alles getan, um ihren Bruder am Leben zu erhalten. Sie schickten Nachricht an meinen Sohn, und sie baten ihn zu kommen, aber er kam nicht. Wie ich selbst feststellen konnte, als ich ihn sah, ließ er sich, wenn der Zeitpunkt nicht stimmte, durch keine Menschenstimme, durch niemandes Flehen beirren. Deswegen schenkte er dem, was er von Martha und Maria erfuhr, keine Beachtung; und sie blieben beide bei ihrem Bruder, damit sie bei ihm wären, wenn er seinen letzten Atemzug tat, wenn er als Teil der Wellen im Meer aufgehen würde, ein unsichtbares Element ihres Rhythmus. Und während dieser Tage, als das Flusswasser langsam den Salzgeschmack annahm und sie ihn begruben und er frisch in der Erde lag, kamen viele Menschen, die Lazarus geliebt hatten und seine Schwestern kannten, zu ihnen nach Hause, um sie zu trösten. Es gab Gespräche und Wehklagen.
    Und als sie dann hörten, dass die Volksmenge wie ein Jahrmarktsumzug eingetroffen war, in dessen Kielwasser Unzufriedene und halbirre Wahrsager folgten, ging Martha hinaus auf die Straße, um meinem Sohn ihres Bruders Tod mitzuteilen. Sie trat ihm in den Weg und erzwang sein Schweigen und das derer, die bei ihm waren, und schrie: »Wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben!« Und sie wollte schon weitergehen, blieb aber dann noch einen Moment, als sie sah, wie traurig er war, dass er wusste oder zu wissen schien, dass Lazarus’ Leiden und Tod eine kaum auszuhaltende Betrübnis war. Diese Last konnte niemand stemmen.
    Nachdem sie das Schweigen noch etwas gedehnt hatte, sprach Martha aufs Neue, und die Menge lauschte. Sie sprach sehr leise, aber was sie sagte, wurde vernommen. Sie war so verzweifelt in ihrer Trauer, dass ihre Bitte wie eine Herausforderung klang.
    »Ich weiß«, sagte sie, »dass du selbst jetzt, da er seit vier Tagen in der Erde liegt, die Macht hast, ihn auferstehen zu lassen.«
    »Er wird erstehen«, erwiderte mein Sohn, »gleichwie die ganze Menschheit auferstehen wird, wenn einst die Zeit nachgibt, wenn selbst das Meer zu einer gläsernen Reglosigkeit wird.«
    »Nein«, sagte Martha, »du hast die Macht, es jetzt zu tun.«
    Und sie sagte meinem Sohn, was schon die anderen ihm gesagt hatten: dass er kein Sterblicher wie wir anderen sei, dass sie vielmehr glaube, dass er der Sohn Gottes sei, dass er in sterblicher Gestalt zu uns geschickt worden sei, aber nicht sterblich sei und besondere Kräfte besitze, dass er derjenige sei, auf den wir gewartet hätten, der König sein würde, wie im Himmel so auf Erden, und dass sie und ihre Schwester zu denen gehörten, die gesegnet seien, ihn zu
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