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Márai, Sándor

Márai, Sándor

Titel: Márai, Sándor
Autoren: Die vier Jahreszeiten
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schleppt diesen Erinnerungsvorrat mit sich herum. In all dem ist etwas Verbotenes und Erhebendes, etwas Göttliches und zugleich Fleischbankartiges, etwas vom Operationssaal und etwas von der Seligkeit. Verneige dich, Mensch, tief, sehr tief, weil du aus Fleisch und Blut bist, weil du einen Körper hast. Dann richte dich auf, mach dich groß, ganz groß, weil du einen Körper hast, den Gott nach seinem Ebenbild schuf. Denk nach, erinnere dich, neige dich zu Boden und erhebe dich bis zum Himmel. Seht, das ist die wahre Leibesübung.
    AHNUNG HABEN
    Mein Hund sieht etwas, das ich nicht sehe, hört Schritte, die in der Ferne verhallen, und selbst das empfindlichste Mikrofon kann diese Geräusche nicht erfassen. Seine Ahnung vom Leben und vom Tod, von Phänomenen, seien sie unteroder übermenschlich, ist auf jeden Fall empfindlich und perfekt. Manchmal geht er witternd durchs Zimmer, er verfolgt mit Adlerauge eine unsichtbare Erscheinung: Da sieht er etwas, irgendwer oder irgendwas im Raum hat sich gerührt, etwas passiert, von dem wir Menschen mit all unserem Instrumentarium keine Ahnung haben und haben können. Er hat sie. Er ist der einzige wirklich gut Informierte in der Stadt, dem ich glaube.
    CHOPIN
    Diese Musik lebt in uns wie die Erinnerung an ein leidenschaftliches, ungestaltes Abenteuer, mit Tränen, Frühzug und Pistolenknall, wir spüren den Geschmack des Todes auf unseren blassen Lippen, der Morgen graut bereits, im Etagenzimmer brennt noch Licht, eine Frau schreibt hier den Brief, im Wald erwachen die Fasane und Auerhähne, ein Mann im Frack, aufgewühlt, rennt einsam auf und ab in seinem Zimmer, irgendeine süße, würzige und kaum zu ertragende Spannung breitet sich aus in der Welt, eine amoralische und packende Spannung, ein Lebensgefühl, das uns ein wenig geniert und das allein es verdient, dass wir das Leben erleben und ertragen. Tolstoi mochte sie nicht; und wenn er sie vernahm, begann er zu weinen und lief aus dem Zimmer. »Was will diese Musik von mir? …«, fragte er schluchzend und empört.
    WÜRDE
    Ich mag würdige Menschen. Sie sterben langsam aus. An ihre Stelle treten allerorts, wohin ich auch schaue, die Herren Würdenträger.
    HORIZONT
    Ich stehe am Berghang und betrachte die Welt.
    Sieh’ eine Wolke, darunter die Pappelallee. Stille ringsum. Jetzt steigt ein Vogel empor. Ich schaue ihm nach, bis er entschwindet.
    Nun kann ich nichts mehr erkennen, nur noch die Wolke. Doch für einen Augenblick, zwischen Wolke und Pappeln, ist mir, als hätte ich etwas verstanden.

ANMERKUNGEN
    Arany: János Arany (1817 – 1882), ungarischer Dichter und großer Sprachkünstler. Seine volkstümliche Epik (Toldi-Trilogie), die virtuosen Balladen samt dem sehr subjektiven, resignativen lyrischen Spätwerk bezeichnen einen seither nicht mehr erreichten Höhepunkt der ungarischen Dichtung.
    Arany: László Arany (1844 – 1898), ungarischer Dichter, Kritiker; Sohn des berühmten János Arany, schrieb unter dem Einfluss des Vaters einen der schönsten Versromane der ungarischen Literatur.
    Auf, Magyaren!: eigentlich das »Nationallied« der Ungarn von Sándor Petofi, das dieser am 15. März 1848 bei einer Revolutionskundgebung vor der begeisterten Menge auf den Stufen des Nationalmuseums in Pest deklamierte.
    Ausgleich: nach Niederwerfung des Unabhängigkeitskampfes der Ungarn (1849) sowie einer Periode des Neoabsolutismus der Habsburger kam es 1867 zum sogenannten Ausgleich zwischen Ungarn und Österreich. Ungarn bekam im Rahmen der Doppelmonarchie die volle Gleichberechtigung.
    Babits: Mihály Babits (1883 – 1941), ungarischer Dichter, Essayist und Literaturhistoriker; Hauptschriftleiter der Zeitschrift »Nyugat« (1908 – 1941), die über Jahrzehnte das literarische und geistige Leben in Ungarn prägte.
    Bahrgericht: auch Blutgericht (ius cruentationis); im Mittelalter eine Art Gottesurteil, bei dem der eines Mordes Verdächtige die Wunden des aufgebahrten Opfers berühren musste; begannen diese zu bluten, galt er als der Schuldige.
    Bártfa: slowakisch Bardejow, deutsch Bartfeld, hübsche Kleinstadt mit bedeutender historischer Vergangenheit am Südrand der Niederen Beskiden im Nordosten der Slowakei; vor der Stadt liegen in einem geschützten Talkessel die kochsalz- und eisenhaltigen Heilquellen, Kurhotels, Villen und gepflegte Parkanlagen, die in Márais Kindheit wohlhabende Bürger anzogen.
    Berzsenyi: Dániel Berzsenyi (1776 – 1836), ungarischer Lyriker.
    Caliban: Ungeheuer aus Shakespeares
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