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Márai, Sándor

Márai, Sándor

Titel: Márai, Sándor
Autoren: Die vier Jahreszeiten
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auch deine Seele. Vergiss das Zimmer, in dem du dich aufhältst, das Leben, das du gerade führst. Sieh und höre nichts anderes als die Zeichen und die Botschaft, die dein Leben in diesem Augenblick erfüllen. Die Menschen gehen dich jetzt nichts mehr an. So, nun kannst du mit dem Schreiben beginnen, um der Menschen willen und für die Menschen.
    KLATSCH
    Sie sagen, sie hätten gesehen, wie er ins Kaffeehaus ging, sich zu ihr setzte und es ihr sagte. Später sahen sie auch mich: Ich hätte mich kurz dazugesetzt und ihnen etwas in der Zeitung gezeigt. Dann sei Erwin vorbeigegangen, habe mich am Arm genommen, und wir seien zusammen weggegangen.
    Doch von all dem stimmt kein Wort. Entnervt protestiere ich und beteuere, dass ich die beiden gar nicht persönlich kenne und Erwin seit einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen habe. Mein Protest verliert sich in einem Weltall, das öde und taub ist, und außerdem redet man schon über anderes. All das ist so konfus und laut, so selbstgewiss und unermüdlich und auch so eintönig wie das Rattern der rotierenden Gebetsmühlen. Und es hat etwas Urtümliches, als hätte die Schlange damit angefangen, damals mit dem Apfelbaum und Gott, und es hat auch etwas Beklemmendes, als bewegtest du dich im Dschungel zwischen Macheten, Fallen, schreienden Affen und Papageien und reich behangenen Affenbrotbäumen. Auch ein wenig widersinnige Wahrheit ist darin: viel Verlogenheit – Lüge millionenfach –, und insgesamt enthält der Klatsch dennoch eine Summa der Wahrheit. Deshalb höre ich ihn mir schweigend an und finde mich damit ab. Nach Jahresfrist ist mir so, mit brummendem Schädel und ein wenig benommen, als wäre ich damals doch ins Kaffeehaus gegangen, hätte mich neben sie gesetzt und ihnen etwas in der Zeitung gezeigt, später kam Erwin des Weges, und wir gingen zusammen weg. Der Klatsch lebt, man lebt mit und von ihm, und in dem Lärm erinnern wir uns dunkel: »Im Anfang war das Wort, und das Wort ist Fleisch geworden«; aber später wurde es zum Klatsch.
    DER DICHTER
    Ja, auch Literaten, die keine Dichter sind, können ganz gute Gedichte schreiben. Ein Dichter schreibt nicht immer nur gute Gedichte. Der Dichter ist zuallererst Dichter, in seinem Liebesleben ebenso, wie wenn er im Theater sitzt oder zur Waffenübung eingezogen wird. Verlaine lebte wie ein Schwein; dennoch war er in jedem Augenblick Dichter. Dichtung ist nicht nur Besessenheit, nicht nur »dichterisches Gebaren«; und die »exercice«, die Mallarmé vom Dichter forderte, ist nur insoweit Voraussetzung für die Dichtung, wie ein Vogel nicht fliegen kann, wenn man seinen Gleichgewichtssinn verletzt. Offenkundig geht es um etwas anderes.
    Dichter sein heißt, präsent sein. Auf diese Weise war Rilke Dichter. (Viel gelesen hat er nicht.) So auch Vörösmarty, Babits*, so auch Baudelaire. Was wir als »Absonderlichkeit« der Dichter empfinden, ist nichts anderes als die groteske Folge dieser krampfhaften, angespannten Präsenz. Wer ständig mit glasigen Augen auf die Realität der Details starrt, kann sich nicht auch noch sachkundig ums Weltall oder um eine Kritik kümmern.
    ERINNERUNG (I)
    Eines Tages habe ich entdeckt, dass ich sie liebe.Warum? Die Frage bewegte mich, weil sie zum einen albern und obendrein nicht zu beantworten war. Mein Bemühen richtete sich darauf, eine Antwort zu finden. Und sie lautete so: Ich liebe diese Frau, anders als die übrigen, anders als alle, die vor ihr waren. Lege ich meine Arme um sie, drücke ich sie an mich, soll diese Geste sie schützen, sie erretten vor der Welt; doch ohne Eigennutz, für sie und auch für die Nachwelt, womöglich für die Unsterblichkeit. Mir ist, als hätte das Schicksal mir mit ihrer Person etwas Edles und ungemein Kostbares anvertraut. Am liebsten möchte ich ihr immer nur etwas geben, wärmende Kleidung, damit sie nicht friert, funkelndes Geschmeide, um sie zu erfreuen, etwas Schönes, Sanftes, Zärtliches möchte ich in ihr Leben bringen, unauffällig, ohne Gegenleistung oder dankbare Liebesdienste von ihr. Dieses Empfinden hat etwas Krankhaftes. Vermutlich liebe ich sie nicht nur, weil sie schön ist. Ich kannte schöne Frauen in größerer Zahl, geliebt habe ich keine. Sie hat etwas, was mir unsäglich vertraut ist. Als wären wir schon einmal zusammengewesen, vor sehr langer Zeit, noch im Paradies mit der Schlange und Luzifer. Vielleicht mag ich sie aufgrund ihrer inneren Sekretion. Oder weil mir der Hauch ihrer Lippen so bekannt vorkommt. Oder weil ihr
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