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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi
Autoren: Justina Robson
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verbergen. »Wir haben noch Zeit genug. In der Dämmerung sind wir sicher. Solange die Welt blau ist, darf nichts und niemand dich jagen oder dir wehtun. Das ist Zauberei. Solange es blau ist, kann uns nichts passieren.«
    »Woher willst du das wissen?«, fragte Karen. Sie rappelte sich unbeholfen auf und versuchte, vor Natalie an die Böschung zu kommen, damit sie nicht diejenige von ihnen war, die sich am dichtesten an den Bottoms befand.
    »Das ist der alte Zauber des Landes«, sagte Natalie. Obwohl sie schwindelte, klang sie so überzeugend, dass ihre eigenen Worte sie beruhigten. »Jeder, der hier lebt, weiß das. Hier gibt es zwar Monster, aber sie dürfen nicht aus ihren Höhlen, bevor es richtig dunkel ist und man nichts mehr sehen kann. Komm schon.«
    »Ja, solange es noch blau ist«, sagte Karen mit neuer Zuversicht und eilte zwischen die Bäume. Natalie lief an ihrer Seite, und gemeinsam rannten sie zur Hügelkuppe hinauf.
    Sie fanden den Pfad und erreichten den Feldweg.
    Auf beiden Seiten rückten die Ungeheuer näher, lauerten und lauschten auf ihre Chance, aber mit jedem Schritt kamen die Mädchen dem Haus näher, und noch immer war es im Westen blau. Irgendwann, während sie redeten und rannten und die Regeln der Blauen Welt vertieften, vergaß Natalie fast, dass sie sich alles nur ausgedacht hatte. Karen glaubte ihr so rückhaltlos, dass die beharrliche Wiederholung ihrer eigenen Flunkerei sie selbst für Natalie wahr zu machen schien. Als sie den Hof erreichten und das Haus sahen, war Natalie so tief in das Zauberreich der Dämmerung versunken, dass sie dessen Kraft spürte wie eine unsichtbare Schutzwand, die unter dem wilden Ansturm unbekannter Angreifer schwer gegen ihren Rücken drückte.
    Später, viel später, nachdem sie zu Bett gegangen waren, stand Natalie am Fenster ihres Zimmers und blickte hinaus in den Wald. Es war so dunkel, dass sie nicht sehen konnte, was jenseits des Hofes lag, den der Lichtschein aus dem Küchenfenster nur ganz schwach erhellte. Vielleicht, ja vielleicht existierte der ganze Wald gar nicht, aber genauso gut konnte er näher gerückt sein, stand nun womöglich gerade außerhalb des Lichtscheins und wartete darauf, dass die Ungläubigen zu Bett gingen und einzuschlafen wagten. In den Träumen war alles möglich, konnte alles wahr werden.
    Wenn ihre verlassenen Körper ungeschützt jeder Gefahr ausgesetzt in den Betten lagen, konnte niemand verhindern, dass es hereinkam, überlegte Natalie, und ihr mit seinen Fingern durchs Haar fuhr, ihr Träume ins Ohr flüsterte und ihr die Wahrheit über die Blaue Welt erzählte, über ihre geheimnisvollen Orte und die Wesen, die dort in der Dunkelheit lebten und umhergingen, wenn niemand sie dadurch bannte, dass er wach war.
    Natalie fragte sich, ob der Wald wütend auf sie sei, weil sie die Geschichte von der Blauen Welt erfunden und damit seine Macht beschnitten hatte, sie zu ängstigen und zu vereinnahmen. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass das Tageslicht und ganz gewöhnliche Menschen ihm die Seele stehlen konnten, hatte sie den Wald noch weiter dorthin gestoßen, wo nichts existierte, wo selbst die Bottoms machtlos waren und weder Raum noch Leben besaßen.
    Natalie kannte diesen Ort. Sie konnte ihn erreichen, wenn sie den Atem anhielt, die Augen schloss und niemand wusste, wo sie war. Die alten Mächte zogen dorthin, wenn niemand sie mehr haben wollte. Indem man etwas sah und die Hand darauf legte – indem man aus Bäumen Türen und Schränke fertigte, indem man Holz schlug und Gras mähte –, bewahrte man sich die Macht zu sagen, was getan werden konnte. Man bannte alte böse Geister, indem man sie mit Hilfe der Ordnung aus dem eigenen Kopf kehrte.
    Doch Natalie war noch zu klein, um immerfort daran zu denken. Sie konnte im Wald spielen und durch ihre Vorstellungskraft etwas erschaffen, solange sie nur glaubte, sie sei dazu imstande. War sie allein, so besaß ihr Glaube sogar bei Tag nur wenig Kraft, und dann vermochte sie oft nicht fest genug zu glauben, dass die Büsche nur Pflanzen ohne eigene Gefühle und die Bäume erst vor kurzer Zeit gepflanzt worden waren und keineswegs zu einem alten Wald mit einem eigenen Willen gehörten. Manchmal spürte sie, wie der Glaube des Waldes in sie fuhr, und dann war sein Glaube stärker als der ihre. Der Wald wollte existieren, und Natalie war ihm im Weg.
    Wenn es dazu kam, musste sie auf ein Geräusch warten, einen Ruf, die ärgerliche Stimme ihrer Mutter, die nach ihr
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