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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi
Autoren: Justina Robson
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jemand gestohlen. Statt ihrer umschloss jetzt kühle Luft die beiden Mädchen, und die Feuchtigkeit auf ihren Armen und Gesichtern fühlte sich plötzlich eisig an. Natalie schauderte es, und Karen gab ihren Wachtposten vor dem Lager auf und kam zu ihr; eilig und still durchschritt sie das Halbdunkel.
    Sie blickten zum Weg, wo der breite Rücken der Böschung sich dunkel und flach vor dem hellen Königsblau des Himmels abhob. Von ihrem ursprünglichen Spielplatz hätten sie nur eine halbe Meile auf dem Feldweg zurücklegen müssen, um das gelbe Licht der Bettzeit zu erreichen; nun aber lagen eine weitere halbe Meile spärlicher Wald und die tückische, steile Böschung zwischen den nasskalten Fingern der Bottoms und der Geborgenheit des Bauernhauses. Auch die Rufe der letzten Vögel mahnten sie, sich auf den Rückweg zu machen. Angestrengt lauschten sie auf einen menschlichen Laut, doch hörten sie nichts außer dem leisen Rauschen des Grases und der Blätter und einer schwätzenden Amsel.
    Natalie wusste, wie sehr Karen sich vor der Dunkelheit fürchtete. Sie hatte selber Angst davor. Nirgends war auch nur ein Licht zu sehen, nicht einmal ein Schimmer von den fernen Straßen. Wenn sie noch länger zauderten, fanden sie am Ende den Heimweg nicht mehr. Im schwindenden Licht gewannen die Geschichten von Trogard und seinen Legionen feindseliger Fuchslochwühler, seinen Orks, Riesenechsen und stets hungrigen Vampiren für Natalie eine ganz seltsame Bedeutung. Obwohl sie genau wusste, dass das Land nur eine Schöpfung ihrer eigenen Fantasie war, schien die Welt in der Dunkelheit weich und formbar zu werden und sie aus dem klebrigen Schlamm unter ihren Füßen reißen zu wollen. Ohne Licht verschwanden überall die scharfen Umrisse; Oberflächen lösten sich auf und entblößten ein glitschiges Innenleben, und alles, was Natalie nicht schon vorher einmal gesehen oder berührt hatte, konnte sich sehr gut als die breiige, pilzige Substanz Trogards erweisen und eine Gestalt annehmen, die es wert war, dass man sich vor ihr fürchtete.
    Karen ging es offensichtlich genauso, denn sie rückte näher an Natalie heran, bis sie gegenseitig ihre Körperwärme spürten. Solange sie schwiegen, konnten sie keinerlei unpassende Laute verursachen. Der Wald lauschte und wartete.
    Karen machte ein Zeichen, das »Gehen wir nach Hause« bedeutete, doch sie bewegte sich nicht. Unwillentlich lauschten sie beide aufmerksam und versuchten angestrengt, aus dem leisen Rascheln des Windes in den Blättern etwas Vertrautes herauszuhören. Und da brummte zum Glück in der Ferne ganz kurz ein Traktorenmotor auf; es klang wie das Sirren von Bienenflügeln. Das mechanische Geräusch bewies ihnen, dass die normale Welt noch existierte, und erlöste sie für einige wenige Augenblicke. Natalie eilte mit schnellen Schritten zur Böschung. Der zähe, fast teigartige Schlamm aus dem winzigen Delta des Baches machte ihre Schuhe zu einer Last.
    Hinter ihr keuchte Karen; vor Furcht konnte sie nur flach atmen. Mit schweren Füßen taumelten sie vorwärts. Kaum hatten sie ihr Spiel aufgegeben, als die Böschung und die Büsche ihre Zauberkraft verloren und wieder ganz die alten, dunklen, hämischen Bekannten waren, träge wie ein Faultier und hart wie Stein, geduldig und doch verschlagen. Die uralte Feindschaft der Bottoms spürten sie wie einen scharfen Blick in ihrem Rücken, und jeder Nerv zwischen ihren Schultern prickelte vor Furcht.
    Vor ihnen wiegten sich die Grasbüschel wie Wellen des Ozeans und versanken in einem Sargassomeer aus Schatten. In ihrer Eile glitt Natalie aus, und Karen und sie kreischten mit schrillen Stimmen auf, als beide mit den Händen auf unvertrautem Boden voller Zweige landeten. Ihre Gesichter sanken so tief in das kalte Laub, dass sie es im Rachen schmeckten; blau senkte sich der Geruch der Nacht auf sie.
    »Ich hab Angst!«, rief Karen, und ihre Stimme brach zu einem Winseln, in dem sich helle Panik ankündigte.
    »Ist schon gut.« Natalie stand hastig auf und wischte sich die Hände an der Hose sauber. Sie versuchte, fröhlich zu klingen und nicht zu schniefen, obwohl sie nur lauschen wollte – stärker lauschen auf das, was ihnen folgte.
    Karen begann zu schnaufen und zu quietschen, und Natalie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie weinte. Sie musste Karen zum Schweigen bringen, bevor jemand – oder etwas –, etwas sie hörte. »Ist schon gut«, sagte sie wieder und bemühte sich, ihren Zorn über Karens Schwäche zu
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