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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi
Autoren: Justina Robson
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L EGENDE 1
N ATALIE A RMSTRONG
     
     
    Natalie war acht in jenem Sommer. Ein trockener Sommer war es, der Sommer in einem La-Nina-Jahr. Der Golfstrom eilte nordwärts und schleppte warmes Karibikwetter hinter sich her; er brachte einen von heißem Sonnenschein und dörrenden Winden erfüllten Tag nach dem anderen. Der Wind hob den Heustaub von den Feldern und blies ihn bis an den Rand von Nan’s Wood, wo Natalie ihn einatmete und niesen musste, niesen, niesen und niesen.
    »Tiggy, Tiggy, eins, zwei, drei, Natalie hat verloren!«, rief Karen triumphierend am Abschlagbaum fünfzehn Meter vor ihr.
    »Das ist nicht fair!« Natalie sprang aus ihrem Versteck und wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab, den sie dann an ihrer Jeans trockenrieb. Sie war wütend, weil Karen öfter gewonnen hatte als sie. »Du hättest mich nicht gesehen, wenn ich nicht mein Pflaster verloren hätte.«
    Natalie vertrug weder Heustaub noch Gräserpollen. Ihr Hautpflaster enthielt Medikamente, die sie vor allergischen Reaktionen schützten, aber es hatte sich abgelöst, als sie in der Scheune Weltraumspaziergang spielten, und nun war es weg. Natalie liefen Augen und Nase.
    »Hätte ich wohl!«, entgegnete Karen überheblich.
    »Verstecken ist sowieso langweilig. Ich will was anderes spielen«, sagte Natalie und wischte sich mit dem Blusenzipfel die Augen. »Komm, wir gehen in den Wald, da ist die Luft sauberer.«
    »Das sagst du nur, weil du verloren hast«, erwiderte Karen. Sie verschränkte die Arme und baute sich entschlossen vor Natalie auf. Natalie hasste es, wenn die größere und kräftigere Karen trotzig wurde, denn wie ein riesiges, verärgertes Ferkel stand sie dann bewegungslos auf dem Fleck, und Natalie blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten oder sie stehen zu lassen.
    »Nein, das stimmt nicht. Wir könnten Pilze suchen und Gewürzhändler aus dem Osten spielen«, schlug Natalie ein Spiel vor, das Karen mochte. »Du kannst Martinello sein, Prinz der Pilze der Ewigen Jugend, und ich bin Pongo.«
    Natalie gefiel nicht einmal, wie der Name Pongo klang. Karen hatte ihn sich ausgedacht. Pongo war Martinellos Gefährte und der einzige Hund, der die Trüffel der Ewigen Jugend erschnuppern konnte; wenn Karen den Prinzen spielte, war keine andere Rolle übrig. Natalie hoffte, sie hatte das Richtige vorgeschlagen, denn manchmal setzte Karen sich in den Kopf, den ganzen Nachmittag die Böse zu spielen, und dann musste Natalie die Rolle der Königin Pirmula Eustachio übernehmen, Ihre Alte Fratzigkeit, denn König Clive Eustachio der Uralte und Mächtige hatte in der Geschichte noch bösere Zauberkräfte, und darum wollte Karen immer nur er sein.
    Karen zuckte mit den Schultern. »Na gut. Aber wenn wir welche finden, probierst du sie als Erste.«
    Natalie zog stirnrunzelnd den Rotz hoch, nickte aber. Hoffentlich fanden sie keine Pilze; dann bräuchte sie nicht schon wieder mit Karen zu streiten. Pongo war nur ein Trüffelhund, kein Trüffelprobierer, und auf keinen Fall würde sie irgendeinen ekligen Pilz essen, während Karen daneben stand und sich daran ergötzte. Karen hatte das sowieso nur deswegen zur Bedingung gemacht, weil sie ihr heimzahlen wollte, dass sie das Tiggy-Eins-Zwei-Drei leid war.
    Der schmale Pfad, auf dem sie gingen, führte von dem Bauernhaus, das Karens Mutter gehörte, durch die Felder zum Wald. Wenn man dem Pfad bis zum Ende folgte, kam man bei Henhurst heraus, aber so weit marschierten die beiden nicht: An der Gabelung schlugen sie den linken Weg ein, der den Hügel hinunterführte und im dichteren, höher gelegenen Wald verschwand, wo die Pilze wuchsen. Im letzten Jahr hatten sie gewaltige Feenringe gefunden, eklige, schleimige Stinkmorcheln entdeckt und Scharen von Wiesenchampignons gesammelt, die wie Weißkäse aussahen und deren dunkelpurpurne Schirme von Schnecken halb abgefressen waren. Dieses Jahr standen nur ein paar kleine Tintlinge mit zerzausten, tintenschwarzen Richterperücken auf den Grashängen, und die meisten waren schon früh vertrocknet. Sosehr sie auch suchten, diesmal fanden sie im raschelnden, seufzenden Wald keinen einzigen Pilz.
    Nur ein paar Minuten später blieb Natalie unter ihrer Lieblingseiche stehen und wirbelte mit Fußtritten das Laub auf. »Nichts da.«
    »Schnüffle weiter, mein Hündchen!«, verlangte Karen; sie selbst half nicht mit, sondern stand auf dem Weg und hielt Ausschau nach den feindlichen Soldaten.
    Natalie suchte unwillig den Boden ab, ohne wirklich
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