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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi
Autoren: Justina Robson
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suchte – dann erst brach der Bann. Nun aber hatte Natalie den Wald herausgefordert, um Karen zu retten. Sie hatte eine Geschichte erfunden, die Karen gegen ihn benutzen konnte, obwohl sie nicht stimmte, und in dem Augenblick, in dem Natalie die Lüge aussprach, hatte sie gespürt, wie sich das Gewebe der Wirklichkeit verzog, um diese Lüge einzulassen. Mittlerweile gehörte die Erfindung zur Wahrheit, ob das nun richtig war oder nicht. Natalie hatte Zauberei angewendet, und niemals würden die Geister des Holzes den Schlag vergessen, den sie ihnen versetzt hatte.
    Natalie wrang den Store in den Händen. Der Hund kam aus seiner Hütte und blickte mit aufgestellten Ohren zu der Mauer hoch, die ihn vor dem Land dahinter schützte. Natalie hörte seine Kette klirren, als er sehnsüchtig zur Haustür sah und sich dann wieder in das dunkle Loch der kleinen Hütte verkroch. Hinter Mauern in einem Raum voller Leute zu sein, die ungläubig waren – einen besseren Schutz gab es nicht. Sogar der Hund wusste das.
    Einen Augenblick wünschte Natalie, ihr Vater wäre da (denn niemand übertraf ihn im Unglauben), doch er hätte ohnehin keine Zeit für sie gehabt, und darum war es besser, wenn er nicht in der Nähe war. Er gehörte zu der Sorte Mann, die am Bett sitzen und Zeitung lesen konnte, während die eigene Tochter von Gespenstern gefressen wurde, an die er nicht glaubte.
    Natalie wich rückwärts ins Zimmer zurück und ging zu Bett, ohne den Blick vom Fenster zu nehmen. Fröstelnd unter der Steppdecke zusammengerollt, blickte sie auf die Sterne und lauschte angestrengt auf die Stimme ihrer Mutter, die sich unter ihr in der Küche unterhielt, auf das Klirren von Eiswürfeln in einem Glas, das Lärmen des Fernsehers, in dem eine Polizeiserie lief, die Karens Vater sich anschaute. Doch unter alldem hörte sie den Wald heraus, eine stille Gewaltigkeit, die vor uralten Geheimnissen beinahe platzte, abwartete, die Lüge von der Blauen Welt zerfraß und Natalie mit klugen Augen anschaute, in denen bereits das Ausmaß ihrer Schuld niedergeschrieben stand.
    Und während sie dalag und auf die Niederlage, auf die Schrecken wartete, die der Schlaf ihr bringen würde, fragte sie sich, ob der Wald durch Lügen völlig in Schach gehalten werden könnte. Ob es genügte, etwas zu erfinden und es wahr erscheinen zu lassen, um es wirklich wahr zu machen. Ob die Welt, solange es keine Zeugen gab, beliebig formbar war.
    Darum hatte Karen sich so verzweifelt bemüht, den Schutz der Blauen Magie ins Dasein zu reden. Deshalb unterhielt sich jeder dauernd über Dinge, die sie, Natalie, nicht verstand – alles sprach darüber und tauschte sie aus und pflichtete sich darin bei: Geld, Politik, Tagesgeschehen, Gärtnern, Hausarbeit, Wäschewaschen. Wurde es dadurch wahr, dass man darüber redete? Hatten sie auf diese Weise alles erschaffen? Sie sprachen mit einer Überzeugung, die durch sicheres Wissen entsteht.
    Doch angenommen, sie hatten immer mehr vergessen, wie zerbrechlich die Wirklichkeit war, je älter sie wurden? Dann wären sie in Sicherheit; dann nämlich vertrauten sie ihren eigenen Geschichten völlig, und grenzenloses Vertrauen bedeutete eine unübertreffliche Schutzmagie.
    Natalie war nicht ganz sicher. Sie wäre gern sicher gewesen – doch wie konnte sie vorgeben, sicher zu sein, wenn sie die Wahrheit kannte? Dass die sichere Welt ein Netz aus Lügen war, unter denen die gemiedene Wirklichkeit wartete, eine Meisterin der unendlichen Geduld und der schrecklichen Offenbarung?

 
L EGENDE 2
J UDE W ESTHORPE
     
     
    Es war im Winter von Judes letztem Jahr auf der Highschool, am ersten Tag der Weihnachtsferien. Mit George Kilgore und Ru Tanner ging er einige Meilen abseits des Schulgeländes in den Wäldern von Maine auf die Jagd. Sie hatten sich zusammengefunden, weil Jude und Ru befreundet waren, und George, ein lauter, aggressiver Junge, seine Fahrt nach Hause absichtlich herauszögerte, damit er vorher noch mit seinen Schusswaffen den Wald durchstreifen konnte. Er wollte seinem Vater und wohl auch sich selbst beweisen, dass er kein verweichlichter Liberaler war, der, sobald er sein Senatorenamt angetreten hätte, unausweichlich den Ausschweifungen und der nachlässigen Moral verfiel. George war von einem Ehrgeiz beherrscht, der Jude sehr komplex erschien, und darum bezweifelte Jude, dass George ihn auf diesem Ausflug befriedigen könnte – weder auf diesem noch auf einem anderen, so viele er auch unternahm. Trotzdem, sagte er
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