Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi
Autoren: Justina Robson
Vom Netzwerk:
würde.
    Ringsum erstreckte sich der Wald in Totenstille. Der Himmel hatte eine gräulichweiße Leichenblässe angenommen, die vom einen Ende der Welt zum anderen reichte und schon darauf wartete, eine weitere Schneeladung freizusetzen, sollte die Kälte nur ein wenig nachlassen. Die Luft hatte einen frostigen Biss, und Jude war, als schneide sie ihm in die Wangen, sobald er sich nur ein bisschen zu schnell bewegte. Blinzelnd sah er zu, wie sein Atem Wölkchen bildete und verschwand, während einige Kristalle in die tiefe Rinne fielen, die George und Ru wie Schneepflüge vor ihm getreten hatten. Die Bäume ragten in die Höhe oder neigten sich spindeldürr zur Seite, schlossen sich um die Gruppe, die die Wiese umkreiste. Sie sahen nichts.
    Der Rest des Tages verschwamm in Judes Gedächtnis, wenn er versuchte, sich daran zu erinnern; wie er durch den Pulverschnee watete, wie er in einen brusttiefen Graben rutschte und von Ru und George herausgezogen wurde; wie sie in alle Richtungen durch die immer gleichen Bäume und über flachen, weißen Boden schauten und nicht dem Kompass glaubten, der ihnen sagte, sie seien im Kreis gegangen, bis sie ihre eigene Spur fanden; wie sie mit Füßen wie Eisklumpen und zusammengebissenen Zähnen unter einem Felsvorsprung saßen und George ihnen nicht erlaubte, die Schokoriegel zu essen, die sie dabeihatten, damit kein Bär die Schokolade roch und gleich unter ihnen, sprungbereit, aus dem Winterschlaf erwachte.
    »Dann siehst du wenigstens einen Bären, den du abschießen kannst«, meinte Ru und reichte den Flachmann mit Bourbon weiter, den George geöffnet hatte. Jude trank nicht davon, er tat nur so. Ihn fror, und er konnte an nichts anderes denken als an den Nachhauseweg.
    »Wir haben’s heute aber nicht auf Bären abgesehen, Rubylein«, entgegnete George, »sondern auf Hirsche.«
    George trug ein riesiges, fußlanges Jagdmesser am Gürtel, mit dem er ständig prahlte und das er zwei Wochen lang geschärft hatte. Im Wohnheim hatte er immer wieder erzählt, dass er damit ein Tier ausweiden oder es mit einem einzigen Streich über die Gurgel »fertig machen« wolle. Er bewahrte das Messer unter seiner Matratze auf, gleich neben einem mädchenhaften Notizbuch mit Schloss und einigen Survival-Magazinen. Jude hegte keinen Zweifel, dass George nicht mehr viel Whiskey brauchte, und er wäre das gefährlichste Lebewesen im ganzen Wald. Er wünschte, etwas würde geschehen, und die Jagd wäre zu Ende, sodass sie endlich nach Hause fahren konnten. Auf den Gedanken, dass er nicht auf George zu warten brauchte, sondern einfach gehen konnte, kam er nicht.
    In nächsten Augenblick sahen sie den Hirsch. Er schritt argwöhnisch am Rand einer Lichtung entlang, wo dichte hohe Äste den Schneefall zum Teil aufgehalten hatten. Einige schwächliche Büschel bleichen Grases zeigten dort ihre Köpfe. Eine große Hirschkuh war es, und sie war allein. Sie stellte die Ohren in ihre Richtung, als sie das Klirren hörte, mit dem George seine Flasche auf den Felsen stellte.
    »Jawoll, Ssör!«, murmelte George und legte an. Den Gewehrkolben drückte er sich fest an die Schulter, sein Grinsen war erstarrt. Er sah aus, als wollte er den Wind beißen.
    In diesem Moment traf Jude der Schock einer plötzlichen Erkenntnis: Mit George stimmte etwas ganz und gar nicht. Er war nicht bloß ein Idiot. Er war zerbrochen, tief drinnen, und selbst wenn er es versuchte – er tickte nicht mehr richtig. Sein Verhalten war auf einen Defekt zurückzuführen, den er jedoch nicht immer gehabt hatte; er war George von jemandem zugefügt worden, vor langer Zeit schon. Jemand hatte ihn zerbrochen, und nun sickerte George, anstatt aus einem vollen Krug gegossen zu werden, überall dort durch die Risse. Jude kannte ihn – aus der Distanz – seit fünf Jahren und hatte bis zu diesem Tag nichts davon bemerkt.
    Jude warf Ru einen raschen Blick zu, er hoffte auf einen Moment alter Vertrautheit, doch Ru bebte vor Aufregung und hantierte an dem Karabiner, obwohl seine Arme so sehr zitterten, dass er nicht einmal eine Scheunentür von innen getroffen hätte.
    »Verdammte Scheiße!«, fauchte George. Sein brandneues Zielfernrohr war von der Wärme seines Auges beschlagen – er hatte vergessen, es in der Tasche aufzubewahren, damit es nicht so kalt wurde, wie es nun war. Er tupfte es ungeschickt mit einem Tuch ab, während Jude ihn musterte und in seinem hoffnungslosen Gesicht bereits die Anzeichen des vom Schicksal gebeutelten George in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher