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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi
Autoren: Justina Robson
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als wäre die Sonne herausgekommen und beschiene ihn.
    Jude fuhr sich mit der Hand über die Augen und blickte hinauf zum leeren weißen Himmel. Vor der blendenden Grelle hob sich der Umriss von Georges erhobener Hand ab. Jude konnte kaum fassen, dass er in dieser Hand das Jagdmesser sah, doch in der langen Stahlklinge spiegelten sich der weiße Schnee und Judes gelber Schal.
    »George?«, fragte Ru irgendwo über ihnen zögernd, bereit loszulachen, sobald der Witz offensichtlich wurde – Ru hoffte inständig, es wäre ein Scherz; wenn es sich als etwas anderes erwies, hätte er nicht gewusst, was er tun sollte.
    George packte Judes Haar und bog seinen Kopf zurück, bis der Anorak Judes Kehle entblößte. Er grinste auf Jude hinab. »Du hebst jetzt das beschissene Gewehr auf und trägst es zum Wagen, und dann gehst du zu Fuß zurück zur Schule.« Er war nun ganz ruhig, als hätte er diese Entwicklung von Anfang an geplant. Er setzte Jude die Messerspitze an die Kehle und tupfte ihm damit gegen das Schlüsselbein.
    Judes Empfindungen waren so absonderlich, dass er glaubte, sie sich nur einzubilden; es konnte nicht sein, dass George ihm langsam und vielsagend mit der anderen Hand über das Becken fuhr und sich seinem Schritt näherte.
    »Und ich werde allen erzählen, wie du kalte Füße bekommen hast, im Wald ein hübsches kleines Bambi zu schießen, Mohawk-Bürschchen.« Er balancierte das Messer mit der Spitze auf Judes Schlüsselbein.
    »George«, sagte Ru flehend. »Die Hirsche laufen uns davon.«
    »Nein, ganz bestimmt nicht.«
    Jude wusste, dass es George ernst war – einer der Gründe, aus denen Jude ihm den Abschuss hatte verderben müssen. Er glaubte nicht einmal, dass George homosexuell war. Wenn doch, so wusste George es selber nicht. Dazu hatte er zu viel Mühe investiert, um als George Kilgore dazustehen, amerikanischer Tatmensch.
    Er zwang sich, George in die schiefergrauen Augen zu sehen, wusste aber nicht, wie lange er es aushalten konnte: In Georges Gesicht loderte eine Energie, die bis gerade nicht einmal zu hoffen gewagt hatte, so bald ein Ventil zu finden. Sie ballte sich hinter seinen Augen zusammen und machte sich bereit, Gestalt anzunehmen.
    »Lass ihn los«, bat Ru leise. »Niemand braucht etwas davon zu erfahren. Ich bringe das Gewehr zum Wagen.«
    »Nein, das tust du nicht.« Jude starrte George an. »Runter von mir, du Schwuli!« Wenn er ihn wütend machte, würde George hoffentlich verfrüht explodieren, und ihnen allen bliebe etwas Schreckliches erspart. Jude war selbst so wütend, dass er keinen Moment lang daran dachte, sich zu fürchten.
    George blickte auf Jude nieder und tippte ihm mit der Messerspitze gegen die Kehle. Seine Hände waren taub, seine Reaktionen langsam. Jude spürte, wie die Klinge ihm ziemlich tief die Haut ritzte, und der unvermittelte Schmerz brachte seine Wut zum Überkochen. Ohne nachzudenken hob er die rechte Hand, packte die Klinge und drehte sie in Georges Hand herum. Einen Augenblick lang rangen sie. Dann setzte George sich auf und ließ sich mit allem Gewicht auf Judes Brust fallen. Eine Rippe brach.
    Als unerwartet und entsetzlich schnell die Kraft aus seiner rechten Körperhälfte verschwand und Jude sich bang fragte, was das trockene Knacken wohl bedeuten mochte, hatte er den Halt um das Messer verloren. George holte weit damit aus und zog die Klinge hinter Judes linkem Ohr vorbei. Er schlug ihm eine klaffende Wunde. Schmerzerfüllt, geriet Jude in Panik. Er glaubte, sterben zu müssen, und hörte sich schwach und stoßweise atmen. Er merkte, dass George zu etwas anderem ansetzte.
    Er hörte ein Krachen wie von einem brechenden Ast, und dann rutschte George betäubt von ihm herunter. An seinem Hinterkopf bildete sich eine Schwellung von der Größe eines Tennisballs. Ru stand neben ihm, zitternd und grün im Gesicht; den Karabiner hielt er mit dem Kolben nach oben wie eine Keule in den Händen.
    Nachdem George wieder zu sich gekommen war, trugen sie zusammen die Gewehre zum Wagen. Sie mussten oft anhalten, damit George sich ausruhen und übergeben konnte. In diesen Pausen rückten sie auch den blutgetränkten Schal um Judes Hals zurecht.
    Nach diesem Tag begegnete Jude George nie wieder, und von Ru hörte er nur noch, dass dieser in Newport Beach Englisch unterrichte, verheiratet sei und bald Vater werde. In seinen Gedanken kehrte Jude sehr oft zu jenem weißen Tag zurück, dem stillen Winter, dem toten Land. In seiner Erinnerung saß auf einem Ast ein
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