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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi
Autoren: Justina Robson
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tatsächlich gesehen.
    In späteren Jahren erinnert er sich Ains stets als einer ernsten Stimme, die immer zornig klingt, weil es ihr nie gelingt, zum richtigen Zeitpunkt auf die richtige Person wütend zu sein. Der Einzige, über den sie nie verärgert ist, ist Allah, und ausgerechnet ihm zürnt Hilel am meisten, denn schließlich bekommt er immer dann den Zorn der Mutter zu spüren, wenn ihre Hand eigentlich Allah treffen sollte – denn wem sonst hätte sie dieses unbefriedigende Leben zu verdanken? Wenigstens waren ihre Hände nicht rot. Sie sind von der Arbeit rau und doch freundlich in seiner Erinnerung, und das, obwohl diese Hände ihn so oft züchtigten. Er war ein ungezogener Junge.
    Ains Familie ist, wie sich zeigt, recht wohlhabend. Die Verwandten schicken Ain genügend Geld, um einen bescheidenen Teppichhandel zu eröffnen. Zehn Jahre lang geschieht nicht viel, und wenn doch, so weiß Hilel nichts mehr davon.
    Dann aber verlässt Ain Igneada, kehrt ins Istanbuler Haus ihrer Familie zurück und heiratet einen älteren Mann, der eine Lastwagenflotte besitzt. Es gibt oft Streit zwischen ihnen. Hilels neue Tanten haben viele ältere Kinder, die überhaupt nicht erfreut sind, dass es ihn gibt, und man erwartet von ihm, in die Moschee zu gehen und zu beten, was angesichts seiner Abneigung gegen Allah jener Tropfen ist, der das Fass zum Überlaufen bringt. Zwei Jahre später reißt Hilel von zu Hause aus. Er war Klassenbester; deshalb ist seine Flucht ebenso ein Rätsel wie eine Schande. Ain sieht oder hört nie wieder von ihm. Wenn er auf seine Entscheidung zurückblickt, dann im Lichte des Wissens, dass sein Tun direkt zu ihrem Tod in der Fahrerkabine eines dunkelgrünen, mit roten Paprikaschoten beladenen Lieferwagens führen wird. Indem sie sich mit Kohlenmonoxid und Dieseldämpfen vergiftet, gibt Ain ihrem Sohn zuletzt doch noch Recht und schwört ihrem Glauben ab. Er jedoch kann zu dieser Zeit an nichts anderes denken als daran, dem Gefängnis zu entrinnen, zu dem ihre Familie die Welt macht.
    Er streift durch die Stadt und handelt mit Hasch, auch mit Heroin und anderen Opiaten. Als Botenjunge fängt er an, lernt jedoch rasch, Geld für sich auf die Seite zu schaffen – obwohl er nichts von seinem Vater weiß, ist er der geborene Spitzbube. Sein Tun ist gefährlich, doch er ist weit intelligenter als seine Vorgesetzten, was nicht viel heißen will – die Kluft zwischen ihnen ist deshalb viel größer, als sie widerwillig mutmaßen. Schon bald sollen sie erfahren, wie sehr er ihnen überlegen ist – auf ihre Kosten.
    Als Hilel siebzehn Jahre alt ist, nennt man ihn »Mahmud«. Ihm gehören das Haus und die Straße und der alte Mann, der ihn mit seinem ersten Päckchen durch die Stadt schickte. Obwohl er nichts davon weiß, gehört ihm auch der Lieferwagen, in dem seine Mutter sich umbrachte, und die Spedition ebenso. Mittlerweile hat er jedenfalls Dringenderes zu tun. Er schwebt in Lebensgefahr. Konkurrierende Banden haben es auf ihn abgesehen, und sie verfügen über mehr Männer und mehr Waffen als er, deshalb nimmt er wieder alles, was er tragen kann, und flieht. Er folgt der Schwarzmeerküste und reist mit einem gefälschten Pass in die Ukraine ein.
    Dass er die Grenze überschreitet, macht seine erste echte Verwandlung erforderlich. Das Skalpell eines kosmetischen Chirurgen verändert sein Äußeres, und durch sehr angelesenes Wissen verändert er seine Lebensweise und wird zu Pavlo Mykytiuk – sein erster genialer Moment. Er begreift, dass er mehr als nur das Aussehen ablegen kann: Er vermag seine gesamte Vorgeschichte hinter sich zu lassen.
    Pavlo ist ein optimistischer Jungkommunist. Mahmud ist dieser Weltanschauung zugeneigt, jedoch nie in der Lage gewesen, wirklich mit seinem alten islamischen Hintergrund zu brechen. Pavlo hat keinen Hintergrund, es sei denn in seiner eigenen Fantasie, daher steht es ihm frei, Idealist zu sein. Er schließt sich einer jungen Kommune in Wolgograd an und lernt Russisch.
    Natürlich nimmt ihm dort niemand den Ukrainer ab, ohne dass es jemanden stören würde, denn alle sind sie jung und froh, dass jemand sich ihnen allein um ihrer Überzeugungen willen angeschlossen hat. In ihrer Leidenschaft sind sie dadurch in gewisser Weise genauso blind wie die Istanbuler Rauschgifthändler. Und obwohl Pavlo sich so viel Mühe gibt, sind alte Gewohnheiten schwieriger abzulegen als alte Identitäten: Es dauert nicht lange, und er muss wieder verschwinden, Anschuldigungen und
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