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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi
Autoren: Justina Robson
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schwarz-weißer Vogel. Nicht sein Schuss, sondern der Ruf des Vogels erschreckte die Hirschkuh. Der Ast ragte aus einer toten alten Birke wie eine handgedrehte Zigarette aus dem Mund eines großen, dürren Mannes.
    In Judes Fantasie grinste sein Vater ihn aus der Birke an, als das Jagdmesser niederzuckte. In dieser, für sich genommen wahren Version dessen, was im Wald geschehen war, stieß George sein Messer Jude in die Brust und zerschnitt ihm das Herz. Das schmerzte, aber nicht sosehr, wie Jude es erwartet hatte. Es war, als teile ihn ein bitterkalter Eiszapfen in zwei Hälften. Eine Trennung zwischen zwei Zonen entstand, die keine Gemeinsamkeiten mehr besaßen. Das Messer drang in sein Brustbein ein, und der Knochen umschloss die Klinge wie eine Hand, die es festhielt. Als George das Messer losließ, wurde sein Gesicht wieder schmal und jungenhaft. Grenzenlos glückselig, lächelte er Jude an, und der Wind zerstäubte ihn in eine Million Kristalle und trug ihn davon.
    Diese Sicht und nicht die eigentlichen Geschehnisse wurden zu Judes stärkster Erinnerung an den Zwischenfall, obwohl er mit der Zeit immer seltener daran dachte.
    In den letzten Jahren hatte er sich überhaupt nicht mehr daran erinnert, nur wenn er die Narbe hinter seinem Ohr berührte, und selbst dann war die Erinnerung nur ein Flüstern von strahlender Kälte, das Fragment von etwas, das zerbrochen und vergraben war.

 
L EGENDE 3
M ICHAIL G USKOW
     
     
    In den Gedanken sind die Vergangenheit und die Zukunft, Träume und Vorstellungskraft nur selten geregelt.
     
    Michail Guskow, wie er heute heißt, wurde im November vor fünfundfünfzig Jahren in einer Kleinstadt unweit von Sarajewo geboren. Seine Mutter war eine türkische Moslemin, sein Vater ein serbischer Christ, der von einem Urlaub in der Türkei mit einer Frau zurückkehrte, die niemand verstand und von der jeder glaubte, sie sei die Bezahlung für eine finstere Tat, die Michails Vater für ihre Familie begangen hatte.
    Die Frau, sie hieß Ain, sprach keine der Sprachen ihrer neuen Heimat, lernte sie aber rasch. Zusammen mit der Sprache erlangte sie die Erkenntnis, dass ihr Ehemann ein alkoholsüchtiger Gewaltmensch war, der zu Depression, Schlaflosigkeit und Anfällen von tiefem Selbstmitleid neigte. Letzteres wurzelte in entschlossener patriotischer Ergebenheit zu dem alten Land, in dem er räumlich zwar noch immer lebte, aus dem er emotional aber für immer verbannt war, nachdem es sich kommunistisches Jugoslawien nannte.
    Ains Ängste wurden ebenso durch ihre Religion kompliziert wie durch ihren Tochtergehorsam und ihren wachen Selbsterhaltungstrieb, den sie auf ihren kleinen Sohn ausdehnte, der auf den Tag genau neun Monate nach der Hochzeit zur Welt kam.
    Sie konnte absehen, dass ihr Leben nicht mehr allzu lange dauern würde, wenn sie bei ihrem Mann blieb, also machte sie Hilel reisefertig, hob das Dielenbrett an und nahm das Geld für den Schnaps aus der Keksdose darunter, das ihr Mann dort zu verstecken pflegte. Zu Fuß und mit der Eisenbahn floh sie über Bulgarien nach Igneada am Schwarzen Meer, wo sie sich niederließ. Als Kind hatte sie diesen Ort einmal besucht und dort die süßesten Bonbons ihres Lebens gegessen.
    Hilel weiß nicht zu sagen, wie sein Vater und seine Mutter miteinander bekannt wurden und heirateten; dieser Teil der Vorgeschichte existiert daher nicht. Es ging um ein Geschäft, glaubt er, eine Art Handel: Braut gegen Gefallen (die Dorfschönheit war der einzige Reichtum, den die dankbaren, aber von Armut geplagten Eltern anbieten konnten). Vielleicht hat sein Vater einen schlechten Menschen getötet. In seiner Vorstellung verlässt die kleine zweiköpfige Familie Sarajewo auf einer steinernen Straße, ein von Verzweiflung zerbombtes Sarajewo hinter sich, ein Vorgeschmack auf die Neunzigerjahre, in denen es durch die Granaten der Krieg führenden Parteien in Schutt und Asche fällt. Hinter ihm putzt sein Vater, der als Koloss auf dem Dach des kleinen weiß gestrichenen Hauses thront, eine Pistole. In seinen Bewegungen verrät sich die neidvolle Bosheit eines Ungeheuers. Seine Mutter zieht den kleinen Jungen (ihn) an der Hand hinter sich her, und er kann kaum mit ihr Schritt halten. Beinahe kugelt sie ihm den Arm aus. Doch das ist keine echte Erinnerung, es ist nur ein Traum.
    Woran er sich wirklich entsinnt, sind die großen roten Hände seines Vaters. Seine Mutter trägt ihre Spuren auf den Armen, den Schultern und dem Rücken. Diese Striemen hat er
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