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Mappa Mundi

Mappa Mundi

Titel: Mappa Mundi
Autoren: Justina Robson
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den mittleren Jahren entdeckte. Seine Lippen waren von der Kälte aufgeplatzt, sahen aber aus, als zersetzten sie sich weitaus nachhaltiger; alte Samenkapseln, für welche die Zeit gekommen war, sich zu öffnen.
    Die Hirschkuh kam vorsichtig an den Rand des Grases und scharrte mit dem Vorderlauf Schnee beiseite. Dann senkte sie den Kopf und begann zu äsen.
    George beruhigte sich wieder. Ru peilte den Lauf seines Karabiners entlang; er hatte noch nicht bemerkt, dass seine Haut am kalten Metall kleben blieb.
    In einer Weise, auf die falsche Weise, hatten Ru und George mit ihrer Einschätzung Judes Recht – er kannte sich tatsächlich besser mit Schusswaffen aus als sie, auch wenn er ihnen niemals erzählt hätte, dass er das Schießen von seiner fünfzehnjährigen Schwester gelernt hatte. Vorsichtig, weil er die Hände kaum noch spürte, lud er das Gewehr durch, während George liebevoll auf die Hirschkuh einredete:
    »Komm schon, Baby, dreh dich rum, mach’s für Daddy, noch ’nen Schritt zur Seite … na prima!«
    Trotz des Einblicks und des Mitleids, das Jude vor einem Moment noch empfunden hatte, hasste er in diesem Augenblick George für seine Inszenierung. Nicht wegen der Jagd an sich, obwohl Jude für den Gedanken, Töten könnte Sport sein, nur Verachtung übrig hatte, sondern wegen Georges idiotischem Männlichkeitswahn und seines Kneipengefasels, das er sich in Fernsehsendungen und Sexheftchen abgeguckt hatte.
    Jude schwang den Gewehrlauf zur Seite, und als die Hirschkuh sich umdrehte und George den Abzugsfinger ruckartig spannte, ballte er die Faust.
    Die Hirschkuh duckte sich und sprang. Ru keuchte und warf sein Gewehr in den Schnee; das kalte Metall riss ihm einen Streifen Haut von der Wange. George feuerte in dem stillen Augenblick, der unmittelbar auf Judes Schuss folgte.
    »Du blödes Arschloch, was sollte denn das?« George warf sein Gewehr auf den Boden, während die Hirschkuh in der Ferne verschwand. Durch das Schneetreiben wirkten ihre Sprünge lautlos und langsam, wie im Augenblick der Erlösung in einem künstlerisch wertvollen Film.
    »Lebend war sie mir lieber.« Jude erwiderte Georges Hass mit einem unbeirrten Blick, der sagte, dass er einen Kampf haben könne, wenn er ihn wolle.
    Ru sah verwirrt vom einen zum anderen, ohne zu wissen, was vorgegangen war; er nutzte jedoch Georges momentane Ablenkung, hob die geliehene Waffe auf und klopfte sie sauber. Die wunde Stelle auf seiner Wange schmerzte heftig.
    Jude hielt George das Gewehr hin, ein totes Gewicht. »Hier.«
    »Was?« George schlug auf die Waffe; beim Sprechen sprühte sein Speichel. »Du hast es hierher gebracht, du trägst es wieder mit zurück.«
    Jude ließ das Gewehr in den Schnee fallen und stand auf. Nachdem er so lange unter dem Felsvorsprung gekauert hatte, schmerzten ihm die Beine und fühlten sich kraftlos an. Er warf einen Blick auf Ru, ein Bündel der Unentschlossenheit, dann wandte er sich wieder George zu.
    »Nimm du es. Es gehört dir.«
    »Himmelherrgott, was ist denn los mit dir? Versaust uns alles. Heb das Gewehr auf! Wir haben noch genug Zeit, um uns ’nen neuen Hirsch zu suchen.«
    »Ich hab’s mir anders überlegt.« Jude schob die Hände in die Manteltaschen, drehte sich um und ging davon.
    »Jude?«, rief Ru ihm nach. »Lässt du uns allein?«
    »Nee, der bleibt hier«, ertönte Georges Stimme dicht hinter ihm.
    Jude drehte sich gerade noch rechtzeitig um, dass er George in dem Moment auf sich zustürzen sah, in dem dieser gegen ihn prallte und ihn zu Boden riss. Zusammen rollten sie durch den weichen Schnee eine sanfte Böschung hinunter. Dabei versuchten sie beide, gleichzeitig Halt zu finden und sich gegenseitig zurückzustoßen.
    Am Ende lag Jude auf dem Rücken, und George sprang auf seine Brust und drückte ihm die Knie in die Seiten. Jude hob die Hände; sehen konnte er nichts durch den Schnee, der auf seinen Lidern lag. Er bekam einen Schlag auf den Mund, mit mehr Kraft geführt, als er George zugetraut hätte. Es fühlte sich an, als wäre er mit einem Stein getroffen worden. Sein Kopf stieß gegen etwas Hartes unter dem Schnee.
    Schmerznadeln schossen über sein Gesicht und bohrten sich ihm tief in den Schädel. Er musste etwas tun, doch als er die Augen öffnete, explodierten vor ihm schwarze Blumen in Zeitlupe, dahinter sah er eine zerlaufende, zittrige Vision von George, der ausholte, um ihn erneut zu schlagen. Diesmal traf er Jude auf die Lippen und die linke Wange, die vor Hitze aufflammten,
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