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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht
Autoren: Polina Daschkowa
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Erstes Kapitel
    »Sie wären gern ein kleines Mädchen, Sie möchten, dass jemand Ihnen über den Kopf streicht, die Decke zurechtzupft und Ihnen ein Märchen vorliest, ein schön gruseliges. Mochten Sie als Kind Gruselmärchen? Erinnern Sie sich an die Geschichten vom roten Klavier im Pionierferienlager, nachts im dunklen Schlafraum? Aus dem Klavier kam eine Totenhand und erwürgte erst den Großvater, dann die Großmutter, dann die Mutter und den Vater. Und zum Schluss die Tochter. Ihnen stockte das Herz in Erwartung der eiskalten Hand, die nach der Kehle griff. Lange Finger, geschmeidig wie Würmer. He, Frau Doktor, warum sagen Sie nichts?«
    Doktor Olga Filippowa ging durch eine menschenleere dunkle Gasse, und in ihrem Kopf klang der heisere Bariton nach. Sie redete sich ein, dass sie sich dieses Gespräch mit einem Patienten absichtlich in Erinnerung rief. Er war nur ein Patient, mehr nicht. Einer von Hunderten Unglücklichen, die sie in den letzten fünfzehn Jahren behandelt hatte.
    »Die Psychiatrie kann nicht heilen, das wissen Sie doch. Sie kann höchstens aus einem Menschen ein Tier machen und aus dem Tier eine Pflanze. Sie müssen mich nicht mit giftigen Psychopharmaka abfüllen. Ich werde nicht toben, Pionierehrenwort. Übrigens – Sie waren doch bestimmt auch Pionier, oder? Haben jeden Morgen das Halstuch gebügelt, Sie erinnern sich noch an den Geruch des heißen nassen Stoffs, der unterm Bügeleisen zischt, und an die nervtötende Stimme im Radio: ›Guten Morgen, Kinder! Hier ist euer Pionierfunk!‹«
    Olga schlug die Kapuze ihrer Pelzjacke hoch und verbarg ihr Gesicht im hohen Kragen ihres Pullovers. Noch vor einpaar Tagen war die Sonne warm gewesen, morgens hatten die Vögel gesungen, die Knospen waren prall, und man hatte glauben können, dass der Winter nun endlich vorbei sei. Statt der ewigen Winterjacke ein leichter heller Mantel, statt des dicken Schals ein Seidentuch. Doch dann war ein Gewitter gekommen, und eine schwarze Wolke hatte eiskalte Hagelkörner über der Stadt ausgeschüttet. Am Abend hatte es aufgeklart und Frost gegeben. Zurück in die schwere Jacke und den Pullover.
    Aprilfröste haben etwas von Verrat. Zumindest empfand Olga es so. Vorgestern hatte sie ihren alten Shiguli in die Werkstatt gebracht, und nun musste sie zu Fuß von der Metro nach Hause laufen, denn die hundertfünfzig Rubel für ein Taxi konnte sie sich nicht leisten.
    Der Wind blies ihr die Kapuze vom Kopf, sie musste sie festhalten. Sie war ohne Mütze und Handschuhe aus dem Haus gegangen, ihre Hände waren eiskalt, die Finger ganz steif.
    Ringsum war keine Menschenseele. Mitten in Moskau, kurz nach Mitternacht. Der arktische Zyklon hatte alle nach Hause getrieben, selbst die Obdachlosen, die Hundebesitzer und die jungen Leute, die sonst den Boulevard bevölkerten. Olga lief schneller, sie rannte fast. Die hohen Absätze ihrer Stiefel klapperten hell auf dem sauberen Asphalt. Eis und Matsch waren von den warmen Märzregen schon weggewaschen worden, darum hatte Olga die neuen weißen Schnürstiefel mit den hohen Absätzen und den modischen runden Kappen angezogen.
    »Sind Sie als Kind Schlittschuh gelaufen? Ihre Stiefel sehen danach aus. Konnten Sie eine Waage? Und eine Schwalbe? Wie hoch konnten Sie das Bein schwingen? Ach, wissen Sie, zu weißen Schuhen gehört eigentlich eine weiße Tasche. Und möglichst helle Strumpfhosen. Zwei Töne heller als die, die Sie jetzt tragen, und fast durchsichtig. Sie haben übrigens schöne Beine. Hat Ihnen das schon mal jemand gesagt? Sie sollten kurze Röcke tragen. Sie meinen, dafür seien Sie zualt? Sie irren sich. Sie sehen viel jünger aus und gar nicht wie eine Frau Doktor. Soll ich Ihnen sagen, wie Sie aussehen?«
    Olga bog in einen Hof ein. Sie sollte lieber nicht den Weg an den Abrisshäusern vorbei nehmen, doch er war nun mal um hundert Meter kürzer. Der erste eigene Gedanke, der durch den Strom des fremden Monologs drang, war der an ein heißes Bad.
    Die Badewanne war der einzige Ort, wo Olga allein sein konnte. Ihre Familie, sie, ihr Mann und zwei Kinder, hauste in einer engen Zweizimmerwohnung. Die Kinder gingen spät schlafen, ihr Mann noch später. Sie standen alle früh auf, trotzdem war der Tag immer zu kurz. Wenn Olga von der Arbeit kam, stürmten alle mit dringenden Anliegen auf sie ein.
    Ihr Mann Alexander, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Handschriftenabteilung eines Forschungsinstituts für die Kunst des Altertums, schilderte seiner Frau
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