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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht
Autoren: Polina Daschkowa
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ein. Das ist nicht dein Verdienst. Das liegt nur daran, dass die anderen alle Hominiden sind, du dagegen bist ein Wandling.«
    Die Füße versanken im nassen Lehmboden, der verharschte Schnee knirschte. Olga spürte eine Pistolenmündung im Rücken. Der Regen rauschte, die Kiefernwipfel schwankten im Wind. Olga hörte die alten Stämme knarren, ganz in der Nähe pfiff eine Vorortbahn, und in der Siedlung bellten Hunde. Sie konnte nicht mehr sprechen.
    Es gab keinen Kirill mehr, hatte ihn nie gegeben. Ein unbekanntes, fremdes Geschöpf war jahrelang an ihrer Seite gewesen, hatte Vorlesungen gehalten, war durch Hypnose in kranke Seelen eingedrungen und hatte Serienmörder mühelos erkannt, denn sie waren seine Blutsbrüder.
    Olga blieb stehen und wandte ihm das Gesicht zu.
    Unter der Kapuze schaute das kurze Rohr eines Nachtsichtgeräts hervor. Ein Zyklopenauge. Olga überlegte, ob sie mit den gefesselten Händen von unten dagegenschlagen sollte und dann fortlaufen, in die Finsternis – das wäre eine Chance. Sie hatte sowieso nichts zu verlieren.
    Aber sie musste erst ihre Kräfte sammeln und den Schlaggenau berechnen. Ihre Arme waren zu schwach, und ihr war schwindlig. Mit ihren hohen Absätzen würde sie in Schnee und nassem Lehm nicht weit kommen.
    »Aha. Ich bin also ein Wandling, die anderen sind Hominiden. Und wer ist ein Mensch?«
    »Es gibt keine Menschen mehr. Keinen außer mir. Ich rette Engel.« Das war wieder die Stimme aus dem Brunnen. »Los, geh weiter, der Engel in dir kann nicht länger warten.«
    »Ich gehe nicht weiter. Schießen Sie ruhig. Sie wollen Ihren Kick. Bioplasmid, nicht wahr? Enger körperlicher Kontakt im Augenblick der Agonie. Also, Kirill, Moloch oder was sonst noch – Sie kriegen kein Bioplasmid. Scheren Sie sich zum Teufel.«
    Plötzlich hörte sie ihn lachen. Unter der dunklen Kapuze blitzten weiße Zähne auf.
    »Gute Erziehung und Starrsinn, das sind die Dominanten deiner Persönlichkeit, Olga«, sagte die normale Stimme des Professors. »Sogar unter diesen Umständen siezt du mich, willst aber trotzdem deinen Willen durchsetzen.«
    Er steckte die Pistole in die Jackentasche, griff nach der Schnur, mit der Olgas Hände gefesselt waren, und schleifte sie durch den Matsch. Der Schmerz in den Handgelenken nahm ihr den Atem.
    Zwischen den Bäumen wurde es licht. Unten schimmerte der See. Olgas Hände waren geschwollen und dunkel vom Blut. Sie spürte keinen Schmerz.
    Der Professor warf sie zu Boden, auf den Rücken, direkt am Steilhang.
    »Du siehst schlecht aus, mein Herz.«
    Durch den Nebel sah sie, wie er die Kapuze abstreifte, das Nachtsichtgerät abnahm, sich hinkniete, eine Schere herausholte und die Schnur zwischen ihren Handgelenken durchtrennte. Mit dieser Schere würde er ihr anschließend eine Haarsträhne abschneiden. Ihre Hände sanken schlaff herab. Sie spürte, wie er sie umdrehte und dabei am Mantelärmelzog. Sie hörte seinen schweren, erregten Atem und ein unheimliches, knarrendes Stöhnen. Er zitterte am ganzen Körper, wie von Stromstößen geschüttelt. Als er ihr die Stiefel auszog, versuchte sie, nach ihm zu treten, verfehlte ihn aber und traf nur die feuchte Luft. Doch der Professor schwankte plötzlich, verlor das Gleichgewicht und fiel hin.
    Olga entdeckte eine männliche Silhouette und rief: »Er hat eine Pistole in der Jackentasche!«
    Der Schrei verschlang ihre letzte Kraft. Das Dröhnen in ihren Ohren übertönte alle anderen Geräusche. Es wurde dunkel.
     
    Solowjow riss die Hand des Professors zurück. Der Schuss ging in die Luft, die Pistole fiel zu Boden und rutschte den Hang hinab in den See. Mehrere Personen stapften rasch näher, Lichtstrahlen huschten durch die nasse Dunkelheit.
    »Stehenbleiben! Die Waffe fallen lassen!«
    Der Professor trat einen Schritt zurück, seine Füße gerieten ins Rutschen, er riss die Arme hoch und stürzte ab. Ein hoher Kehllaut, wie der Schrei eines großen Nachtvogels, drang aus seiner Kehle. Wasser spritzte auf und vermischte sich mit dem Regen. Der See war an dieser Stelle sehr tief. Der Wanderer konnte nicht schwimmen.
    Er wurde schnell gefunden und herausgezogen. Die spätere Obduktion zeigte, dass er an einem Herzinfarkt gestorben war, noch bevor er die Wasseroberfläche berührte.
    Bis zur Chaussee trug Solowjow Olga. Es regnete noch immer in Strömen. Lichter blitzten, Sirenen heulten.
    Der Notarzt fühlte Olgas Puls, hob die Augenlider an und schaute ihr in die Pupillen.
    »Sie bekommen gleich eine
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