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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht
Autoren: Polina Daschkowa
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sich geradezu auf. Bevor Solowjow den Namen aussprach, murmelte er: »Nein. Das ist unmöglich!« Genau dasselbe hatte Olga gesagt, als er den Film angehalten hatte.
    Er drosselte das Tempo ein wenig und wählte eine Telefonnummer. Während es klingelte, dachte er: Unsinn. Er fährt keinen Ford Fokus. Er hat eine alte Importkiste, Opel oder Skoda. Er setzt sich nur selten ans Steuer, er fährt lieber Taxi oder Metro. Natürlich ist er zu Hause.
    »Guten Tag. Leider kann ich im Moment nicht rangehen, rufen Sie bitte später noch einmal an oder hinterlassen Sie nach dem Signalton eine Nachricht.« Eine vertraute, angenehme Stimme. Solowjow hinterließ keine Nachricht. Er wählte für alle Fälle noch die Handynummer und wunderte sich nun nicht mehr, als er hörte: »Der Teilnehmer ist zur Zeit nicht erreichbar.«
    Solowjow überquerte ein Schmalspurgleis und entdeckte, dass die eine Betonmauer endete und zwischen ihr und der nächsten eine nur wenige Meter breite Gasse lag. Er wendete und schaltete das Fernlicht ein. Ganz am Ende der langenSackgasse zwischen den Mauern, vor der rostigen Wand einer Garage oder Lagerhalle, stand ein Wagen. Ein dunkelblauer Ford Fokus mit dreckbespritztem Kennzeichen.
     
    Ihre Hände zitterten. Ihr war schwindlig. Sie musste sich ein wenig ausruhen. Jede Bewegung kostete Kraft. Sie näherten sich dem Stadtring. Olga sah zwei Milizautos. Ein Offizier der Verkehrswacht hob den Stab.
    Lieber Gott, hilf, rief Olga in Gedanken.
    Der Offizier war ganz nah, sie fuhren direkt auf ihn zu. Das blinkende Blaulicht erhellte das Wageninnere. Moloch drosselte das Tempo. Der Offizier senkte den Stab. Ein dunkler Importwagen rollte an den Rand. Moloch fuhr langsam weiter und passierte die Grenze des Stadtrings.
    »Jetzt sind wir in Sicherheit. Noch ein wenig Geduld, mein Herz.«
    Erneut ertönte Musik. Diesmal ein Sinfonieorchester. Eine ergreifende Streicherwelle brandete auf und traf direkt in die Seele, dann floss langsam und zart, wie eine Träne auf der Wange, ein Violinsolo dahin.
    »Johannes Brahms, Sinfonie Nr. 1«, erklärte Moloch.
    Mein Herz, mein Herz, wiederholte Olga in Gedanken, außerstande, sich zu rühren. Der zweifache Scheitel. Das Muttermal am Nacken. Ein flacher dunkelroter Fleck, so groß wie ein altes Fünfkopekenstück. Er ist fast völlig unter den Haaren versteckt, aber ich habe ihn gesehen, als er sich beklagte, er bekäme ein Glatze, und den Kopf senkte. Es ist sein Kopf, sein Nacken. 1983 hat er dreißig Kilometer vor Moskau eine Datscha für seine Mutter gemietet und war oft dort. Seine Mutter ist 1987 gestorben. Der Ort heißt Ubory und ist nur zwei Kilometer von Dawydowo entfernt. Mark könnte ihn erkannt haben, aber er hat Mark hypnotisiert. Er hat sein Gedächtnis paralysiert und seinen Willen gelähmt. Darin ist er genial. Er ist der beste Gerichtspsychiater Russlands. Seine Methode »Ich bin er« verlangt absolutes Hineinversetzen inden Täter. Darum waren seine Marotten erklärlich. Er musste sich schließlich jedes Mal in die psychopathischen Monster hineindenken. Niemand konnte ahnen, dass er selbst eines ist.
    Sie bemerkte nicht, dass ihre Hände sich hartnäckig auf ihr Gesicht zubewegten. Ihre Finger fanden die lose Pflasterecke, packten sie und rissen daran. Das Pflaster ging erstaunlich leicht ab, vermutlich, weil es nass war von ihren Tränen.
    »Kirill«, sagte Olga und erkannte ihre eigene Stimme kaum, »wir beide haben Moloch gefunden. Er ist Sie. Lassen Sie nicht zu, dass er Sie verschlingt.«
     
    Die Autotür ließ sich mit Hilfe des schmalen Schraubenziehers am Taschenmesser überraschend leicht öffnen. Die Alarmanlage schrillte los, doch das hörte niemand. Das Mobiltelefon spendete nur wenig Licht, aber Solowjow bemerkte links hinten, an der Lehne der Rückbank, etwas Glänzendes. Eine kleine Damenuhr mit schmalem Goldarmband. Er erkannte sie sofort – er hatte vor zwei Jahren lange nach einem Geburtstagsgeschenk für Olga gesucht und sich schließlich für die elegante, zierliche Uhr mit dem ovalen Perlmuttzifferblatt entschieden.
    Damals hatte die Fahndung nach Moloch gerade erst begonnen. Sie arbeiteten sehr intensiv, und Olga wollte ihren Geburtstag nicht feiern. Sie war erstaunt und verlegen, als Dima ihr das Geschenk überreichte.
    »Bist du verrückt, so eine teure Uhr!«
    Die Uhr sah an ihrem Handgelenk wunderbar aus. Sie nahm sie nie ab. Solowjow erstarrte, als er auf das Zifferblatt blickte. Die Uhr war stehengeblieben.
    Unsinn, alberner
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