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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht
Autoren: Polina Daschkowa
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berühren.
    Ob das Haus wohl noch beheizt wird? Wie haben sie hier bloß den Winter überlebt?, dachte Olga mit einem Blick auf das einsame Fenster. Für einen Moment glaubte sie dort hinter der trüben Scheibe einen dunklen Schatten zu sehen. Sie spürte sogar einen Blick. Vielleicht schaute eins der Kinder aus dem Fenster?
    Olga passierte im Laufschritt den Torbogen, schlüpfte in ihren vertrauten warmen Hauseingang und befahl sich: Vergessen! Vor allem den geschwätzigen neuen Patienten ohne Namen und Alter. Auch die Katze Dussja, den Liebling der Station. Sie war am Abend verschwunden, nicht zum Fressen erschienen und reagierte auf kein Rufen. Die Kinder vergessen, die leben, wo eigentlich kein Mensch leben kann, und ihre Mutter, die drogensüchtige Prostituierte, die erst achtzehn Jahre alt war.
    »Sie sind zu sensibel für Ihren Beruf, Olga. In Ihrem Sprechzimmer lebt eine Katze. Dussja, hab ich gehört. Sie ist weiß und lieb. Wenn ihr was passieren sollte, werden Sie weinen. Oh, ich kann mir gut vorstellen, wie Sie weinen. Wie ein Kind, untröstlich und rührend. Die meisten Männer mögen es nicht, wenn Frauen weinen, aber ich schon. Mich macht das unheimlich an.«
    Zu Hause angekommen, stellte Olga erleichtert fest, dass ihre Familie bereits schlief. Die Kinder in ihrem durch Bücherregale zweigeteilten Zimmer – Andrej war im Sitzen auf dem Fußboden eingeschlafen, zwischen Tisch und Bett, in seinen zerschlissenen Hausjeans, mit Kopfhörern, aus denen hektischer Rap klang; Katja hatte sich immerhin die Mühe gemacht, einen Pyjama anzuziehen und sich ins Bett zu legen.
    Olga weckte niemanden, schaltete Fernseher und Stereoanlage aus, entledigte sich der Jacke und der Stiefel, griff nach dem Telefon, ging barfuß auf Zehenspitzen ins Bad, schloss die Tür hinter sich und rief in der Klinik an.
    »Hat Dussja sich wieder angefunden?«
    »Nein. Wer weiß, wo die sich rumtreibt«, antwortete die diensthabende Schwester Galja nach einem langen Gähnen. »Es ist Frühling, sie streunt durch die Gegend. Ist nun mal eine Katze.«
    »Und was macht der Neue?«
    »Alles in Ordnung. Er schläft.«
    »Sieh bitte mal nach. Ich bleibe am Apparat.«
    »Wozu denn? Ob er vielleicht abgehauen ist?«
    Stimmt, ist ja Unsinn, tadelte sich Olga. Wo soll er hin?
    Galja ging trotzdem nachsehen. Olga hörte, wie sie den Telefonhörer auf den Tisch legte und in Pantoffeln über das abgewetzte Linoleum schlurfte. Einen Moment lang fühlte sich Olga unbehaglich, ganz allein mit der lebendigen Stille im Hörer. Sie saß auf dem Wannenrand. Aus dem Hahn tropfte es träge.
    Olga schloss die Augen, um ihr Gesicht nicht im Spiegel zu sehen. In dem hellen Licht wirkte es grau und alt. Sofort erschien im regenbogenfarbenen Schimmern unter ihren Lidern das Gesicht des Unbekannten. Ein Mann zwischen fünfunddreißig und vierzig. 1,80 groß, 73 Kilo schwer, der Kopf kahlgeschoren. Kleine braune Augen, rundes Gesicht. Gerade, platte Nase. Volle, glänzende, leuchtend rote Lippen, wie geschminkt. Rosa Pusteln unterm Kinn, eine Hautreizung vom Rasieren. Keine besonderen Kennzeichen zur Identifizierung.
    »Nehmen Sie einfach an, dass Sie einen Toten vor sich haben. Eine Person ohne Papiere, ohne Namen, ohne Gedächtnis – das ist doch ein Toter, stimmt’s? Sie werden mich reanimieren müssen, Olga. Ist zwar nicht ganz Ihr Metier, aber was tun?«
    Nach einer Ewigkeit kam die Nachtschwester wieder ans Telefon.
    »Wie ich gesagt habe, er schläft, der verdammte Karussellfahrer. Ihnen auch eine gute Nacht.«
     
    Am Vortag hatte der Nachtwächter des Kulturparks am frühen Morgen in einer Riesenradkabine einen Mann entdeckt. Die Kabine schwebte ganz oben. Der Strom war abgeschaltet und der Mann vergessen worden. Er hatte die ganze Nacht dort verbracht. Am Morgen, als das Riesenrad wieder eingeschaltet und die Kabine mit dem Unglücklichen heruntergeholt wurde, wollte er nicht aussteigen. Auf Fragen reagierte er nicht. Er klammerte sich an die stählernen Kabinengriffe und starrte ausdruckslos vor sich hin.
    Die vorläufige Diagnose des Notarztes lautete: psychogene Starre. Plus Unterkühlung. Der Mann war für die Aprilfröste viel zu leicht gekleidet: T-Shirt, Flanellhemd und dünn gefütterte Jeansjacke. Seine Taschen enthielten lediglich zweihundert Rubel und etwas Kleingeld, eine halbleere Schachtel Marlborogh light und ein billiges Wegwerffeuerzeug. Auf der Station bekam er den Namen »Karussellfahrer« verpasst – schließlich musste man ihn ja
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