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Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder
Autoren: Anna Geller
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bevorstanden. Meist gab es weder einen goldenen Herbst noch einen richtigen Winter, sondern einfach nur Schmuddelwetter.
    Aus dem Spiegel neben der Tür sah ihm eine eher schmächtige Gestalt mit zerstrubbeltem Haar und einem Gesicht voller dunkler Bartstoppeln entgegen. Es war ein Kreuz mit seinem Bewuchs. Chris streckte sich selbst die Zunge raus und schlüpfte in seine Pantoffeln.
    Karin klapperte in der Küche mit dem Frühstücksgeschirr. Der Servierwagen war schon mit dem blau-weißen Porzellan und Tellern mit Wurst und Käse beladen. Als sie sicher war, nichts vergessen zu haben, bugsierte sie den Wagen mit ihren Krücken zum Esstisch im Wohnzimmer.
    Währenddessen holte Chris die Tageszeitung aus dem Briefkasten und beseitigte die Spuren der letzten Nacht aus dem kleinen Schlafzimmer. Fegte Baguettekrümel aus dem Bett, trug Gläser in die Küche und pfiff dabei vor sich hin. Er freute sich auf einen ruhigen Tag zu Hause, ehe sie beide morgen wieder arbeiten mussten.
    Auf dem Display des Anrufbeantworters im Flur leuchtete ihm eine „5“ entgegen. Gestern Abend war es einfach gewesen, dieses blinkende Lämpchen zu ignorieren, das im Sekundentakt signalisierte, dass die Ferien vorbei waren. Eine Woche Romantik hin oder her, der Alltag hatte sie eindeutig zurück. Seufzend drückte er im Vorbeigehen den Wiedergabeknopf und versuchte sich zu erinnern, welche Termine er in den nächsten Tagen hatte.
    „Hi, ihr siamesischen Zwillinge“, tönte es nach einem schrillen „Piep“ durch die Wohnung, „hier ist die lästige Lea. Wenn ihr Samstag Lust auf ein Bier habt — na, ihr wisst ja, wo ihr mich findet. Ciao!“
    Chris und Karin grinsten sich an. Lea, seine beste Freundin, verbrachte ihre Wochenenden grundsätzlich im „Mainzer Hof“, einer im Moment ziemlich angesagten Kneipe. Und auch ohne ihre Aufforderung hätten sie sicher in Erwägung gezogen, am Samstag einen Abstecher dorthin zu machen.
    Das nächste „Piep“.
    „Hallo, Chef!“ Chris verdrehte die Augen, als er die Stimme seiner Mitarbeiterin hörte. Die „Nixe“, wie er sie nannte, wusste genau, dass er bestimmte Dinge gern aus dem Gedächtnis strich. „Nur zur Erinnerung“, sagte sie denn auch. „Die Sache Pechstein, Mittwoch früh um zehn, Landgericht, Saal 111. Die Unterlagen sind fertig. Bis später.“
    Er hatte Pechstein in der Tat die ganze letzte Woche verdrängt, weil der ein pedantischer Korinthenkacker war und ihm furchtbar auch die Nerven fiel. Aber das Engagement, das Chris für drogenabhängige Frauen, illegale Prostituierte und all die anderen, die keinen Platz in der Gesellschaft fanden, an den Tag legte, brachte ihm nicht viel ein. Deshalb war er gezwungen, andererseits einen Mandantenstamm zu pflegen, der ihm ganz und gar nicht behagte. Leute, die Geld hatten und für jeden „quersitzenden Furz“ (wie Karin immer sagte) nach ihrem Anwalt brüllten. Pechstein war einer davon. Und am Mittwoch würde es um die Ecke eines Gartenzauns gehen, die — Pechsteins Meinung nach — zehn Zentimeter auf sein Grundstück ragte. In zweiter Instanz!
    Nach dieser Mitteilung grinste Karin nur süffisant. Hoch erhobenen Hauptes stolzierte Chris an ihr vorbei, um die Rotweinflasche aus dem Schlafzimmer zu holen.
    „Chris? … Susanne hier. Ruf an, sobald ihr zurück seid … Egal … egal wie spät …“
    Einen Augenblick lang war nur das Brummen des Anrufbeantworters zu hören. Dann setzte die Polizistin hinzu: „Komm auf jeden Fall erst ins Präsidium, bevor du wegen der kleinen Seibold etwas unternimmst.“
    Chris hielt die Rotweinflasche wie ein Baby im Arm. Er blieb stehen und runzelte die Stirn. Was meinte Susanne bloß mit der „kleinen Seibold“?
    „Noch mal Ihr Nixchen, Chef. Rufen Sie bitte dringend zurück. Frau Braun macht mich hier verrückt wegen der Seibolds.“
    „Tach, Kinder. Luise spricht! Könntet ihr nächste Woche …“ Mit zwei Schritten war Chris beim Apparat und drückte die Stopp-Taste. Die Weinflasche neigte sich dabei gefährlich zur Seite.
    Karin stand schwer auf ihre Krücken gestützt in der Küchentür und sah ihn irritiert an. „Wer, zum Teufel, sind die Seibolds?“
    Chris stellte die Flasche ins nächstbeste Regal, neben einen Stapel Bücher, die Karin noch nicht gelesen hatte. Seibold? Der Name sagte ihm etwas … Seibold … Eine flüchtige Erinnerung tauchte auf. Erst nur als dunkler Fleck an der Decke eines Badezimmers. Ein Wasserschaden, den die Versicherung des Vermieters nicht zahlen
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