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Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder
Autoren: Anna Geller
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wollte. Das Bild in ihm wurde deutlicher. Er sah eine Vier-Zimmer-Wohnung, ein großes Wohnzimmer mit Essecke, alles „Eiche Altdeutsch“, eine Familie mit drei Kindern. Ein Zwillingspaar, wenn ihn seine Erinnerung nicht trog und ein zauberhaftes kleines Mädchen, das damals drei oder vier war.
    Endlich nahm er Karin wieder wahr, die immer noch in der Küchentür stand und eine Antwort erwartete. Verwirrt schüttelte er den Kopf. „Ich hatte mal Mandanten, die hießen so. Da ging es um einen Wasserschaden. Muss zwei Jahre her sein.“ Noch einmal schüttelte er den Kopf. „Aber ich habe keine Ahnung …“
    Hatte er plötzlich doch. „Kleine Seibold“ und im „Präsidium melden“, hatte die Hauptkommissarin im Dezernat für Todesermittlungen gesagt. Plötzlich bekam er eine Gänsehaut und in Karins Augen sah er, dass sie das Gleiche dachte.
    Er ging an ihr vorbei in die Küche. Auf der hellen Arbeitsplatte hatte die Nachbarin, die sich auch um die Blumen kümmerte, fein säuberlich die Post der letzten Woche gestapelt und daneben die Tageszeitungen abgelegt.
    Chris trug sie ins Wohnzimmer und schob das noch unberührte Frühstücksgeschirr ein wenig zur Seite. Beide machten sie sich an die Lektüre des jeweiligen Lokalteils. Die ganze letzte Woche gab es nur das Übliche: Streit im Rathaus über die archäologische Zone und das jüdische Museum, Überfall auf zwei Rentnerinnen, ein abgebrannter Dachstuhl, Preiserhöhung bei den Verkehrsbetrieben.
    Schließlich nahm er die Zeitung von gestern. Und was dort stand, machte aus seiner Ahnung schreckliche Gewissheit. Am Abend zuvor war die Leiche der seit Freitag vermissten sechsjährigen Claudia S. gefunden worden. Im Gremberger Wäldchen, an einen Baum gebunden und erdrosselt. Ob ein Sexualverbrechen vorlag, konnte oder wollte die Polizei zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen. Aus irgendeiner Quelle hatte der Redakteur allerdings erfahren, dass Claudia nackt gewesen war und zog daraus entsprechende Schlussfolgerungen.
    Staatsanwaltschaft und Polizei hatten noch am Abend eine zwanzigköpfige SOKO Claudia eingerichtet. Der letzte Absatz kündigte nur noch eine Pressekonferenz an, die die leitende Oberstaatsanwältin Breitner am Nachmittag geben wollte.
    Chris kannte die winzig kleine Marlene Breitner. Kupferrotes Haar und überbordendes Temperament waren ihre herausragenden Merkmale. Sie war blitzgescheit und verstand es, jede noch so gute Verteidigung aus den Angeln zu heben. Zudem verfügte die hochqualifizierte Juristin über einen ausgeprägten kriminalistischen Spürsinn.
    „Ah, ich verstehe langsam“, schreckte Karin ihn aus seinen Gedanken. Sie saß über die heutige Ausgabe gebeugt. „Hier steht, dass die leitende Polizeibeamtin Susanne B. bla, bla, bla.“
    Auf ihrer Stirn entstand eine tiefe Falte. „Aber was hast du damit zu tun?“
    Noch nichts, dachte Chris. Aber wenn die Kommissarin ihn so händeringend sprechen wollte, würde er sehr bald etwas damit zu tun haben. Sein Magen verkrampfte sich schmerzhaft. Den Angehörigen von Mordopfern empfahl man immer, einen Anwalt hinzuzuziehen. Um vielleicht Rechte aus dem Opfer-Entschädigungsgesetz wahrzunehmen; damit sich jemand kümmerte, dass die Leiche möglichst bald von der Gerichtsmedizin freigegeben wurde; dass einfach jemand da war, der die Formalitäten erledigte. Manchmal musste man auch die Polizei zurückpfeifen, wenn sie der unter Schock stehenden Familie auf unangenehme Weise zusetzte. Später, wenn der Täter gefasst und angeklagt wurde, konnten die Angehörigen als Nebenkläger auftreten, meistens ebenfalls vertreten durch den Anwalt. … Später … Jetzt ging es in der Hauptsache um seelischen Beistand, um eine möglichst neutrale Person, die all das besorgte, was für die Angehörigen belastend war …
    „Ach, du Scheiße“, murmelte Karin, die immer noch an dem ganzseitigen Artikel las.
    „Was ist?“
    „Hier steht, sie ist in die 1 b der Grundschule Berrenrather Straße gegangen.“ Sie sah auf und die blaugrauen Augen wirkten dunkel. „Frauke geht in die Parallelklasse.“
    Chris stöhnte auf. Dass Karins sechsjähriges Patenkind auf die gleiche Schule ging, machte die Sache bestimmt nicht einfacher. Die Kleine würde verstört sein, Horst und Silke verängstigt und geschockt — wie wahrscheinlich alle Eltern, die Kinder in dem Alter hatten.
    Bevor er sich richtig klarmachte, dass sie sich auch darum würden kümmern müssen, sagte Karin: „Sieh sie dir mal an.“
    Sie drehte
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