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Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder
Autoren: Anna Geller
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gepflegter Langeweile. Wenn keiner auf die Idee kam, einem anderen die Kehle durchzuschneiden und damit im Dezernat für Todesermittlungen Hektik auslöste, würden sie und „ihr“ Oberkommissar, Heinz Hellwein, alte Akten aufarbeiten, in der Nase bohren und sich gegenseitig angähnen.
    Bei Bereitschaftsdiensten bestand nicht unbedingt Anwesenheitspflicht im Präsidium, sie mussten nur schnell und immer erreichbar bleiben. Aber es war den beiden zu einer lieb-verhassten Gewohnheit geworden, einen Teil dieses Zweiundsiebzigstundendienstes zu nutzen, um Liegengebliebenes auf den aktuellen Stand zu bringen. Dagegen sprachen auch keinerlei familiären Verpflichtungen. Hellwein war Single aus Überzeugung, und Susanne lebte allein, seit ihr Mann, ebenfalls Polizist, vor ein paar Jahren im Dienst erschossen worden war.
    Sie hoffte, dass sie noch eine ganze Weile mit ruhigen Routinearbeiten befasst sein würden. Bis vor ein paar Wochen war es monatelang hektisch gewesen. Im März ein Raubmord in Godorf, und schließlich diese verworrene Geschichte im Mai, bei der zwei Prostituierte ermordet worden waren, und beinahe auch ihr alter Freund Christian Sprenger. Jetzt noch überlief es sie kalt, wenn sie daran dachte. Chris hatte schon mehr als einmal zur Lösung eines Falles beigetragen, aber manchmal steckte er seine Spürnase auch zu tief irgendwo rein. Wie im Mai. Da hätte es ihn fast ins Grab gebracht, dass er dem Täter zu nahe gekommen war. Und wenn letzten Endes sein kluger Kopf nicht doch noch geschaltet hätte, würde auch Karin Berndorf nicht mehr leben.
    Schnell schob Susanne den Gedanken beiseite und versuchte, sich auf den Fall einer Achtzigjährigen zu konzentrieren, die im Juni erschlagen aufgefunden worden war. Auch diese Ermittlungen waren so gut wie abgeschlossen, nun mussten jedoch die Beweise und Indizien für die Staatsanwaltschaft dokumentiert werden. Die Beweisanforderungen, die die Gerichte stellten, wurden immer größer und damit die Ermittlungsarbeiten immer umfangreicher, der Schreibkram unangenehm aufwändig.
    Hellwein, der ihr gegenüber an seinem Schreibtisch saß, stöhnte leise und klappte einen roten Aktendeckel zu. Dann stierte er nachdenklich auf die zerkratzte Tischplatte, stützte den Kopf in die rechte Hand und schlug die Akte mit der linken wieder auf. Susanne beneidete ihn nicht, denn ihm machte eine skelettierte Leiche zu schaffen, die man vor ein paar Monaten im Worringer Bruch gefunden hatte. Da die Leiche vergraben gewesen war, lag höchstwahrscheinlich ein Gewaltverbrechen vor. Die forensischen Anthropologen hatten herausgefunden, dass es sich um eine weibliche Person zwischen zwanzig und dreißig handeln musste, vermutlich asiatischer Herkunft. Mehr nicht. Todesursache und Zeitpunkt waren nicht eindeutig zu klären, es gab keine verwertbaren Spuren, und eine Identifizierung schien nahezu unmöglich. Ein ziemlich aussichtsloser Fall. Und für einen Kriminalisten war nichts frustrierender, als ohne jeden Ermittlungsansatz dazustehen.
    Susanne nahm die Lesebrille ab und fixierte den Stadtplan an der gegenüberliegenden Wand. Das tat sie immer, wenn sie intensiv über etwas nachdachte. Sie war lang und dürr, und als sie jetzt auf die weißen und gelben Linien stierte, schien sie noch einmal ein paar Zentimeter zu wachsen, so aufrecht saß sie plötzlich. Warum war sie nur so nervös? Lag es an den zwei, drei Wochen relativer Ruhe, die hinter ihr lagen? War das die Ruhe vor dem Sturm? Oder lag es an der Reizlosigkeit, die ihr Job hatte, wenn sie sich nicht in einen aktuellen Fall verbeißen konnte?
    Sofort rief sie sich zur Ordnung. Ein aktueller Fall hätte ein Verbrechen vorausgesetzt. Und das war eigentlich das Letzte, was sich eine gute Polizistin wünschte.
    Sie fuhr sich mit beiden Händen durch das ohnehin zerzauste braune Haar und sah wieder zu Hellwein hinüber. Er klappte die Akte „Worringer Bruch“ endgültig zu und legte sie auf die rechte Seite des Schreibtischs. Von den drei überquellenden Ablagekörbchen einmal abgesehen, war sein Arbeitsplatz ausnahmsweise nahezu aufgeräumt. Nur auf dem Computermonitor pappten jede Menge kleiner Notizzettel mit seiner krakeligen Schrift. Da gewöhnliche Zettelchen immer wieder davonwehten, wenn jemand zu stürmisch vorbeiging oder das Fenster geöffnet war, beschrieb er seit Kurzem die gelben Selbstklebenden. Warum er nicht einfach normal große Blätter für seine Notizen nahm, wie jeder andere auch, war Susanne
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