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Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder
Autoren: Anna Geller
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viel eher als „Behinderte“ wahr, wenn sie ihre Prothese trug. Auf Krücken war sie einfach geschickter und ausdauernder. Mit dem „alten Mädchen“, wie Karin das künstliche Bein nannte, war sie unsicher, und jede hochstehende Bodenplatte wurde zur gefährlichen Stolperfalle. Deshalb verließ sie das Haus niemals ohne ihren leuchtend blauen Gehstock.
    „Lass uns zusammenziehen, und ich erlasse dir das Stottern“, schlug Chris grinsend vor.
    Karin atmete in gespielter Erleichterung tief durch. „Puh — hab ich ein Glück! Aber jetzt mal im Ernst.“
    „Ich bin ganz erst. Lass uns diesem Hin und Her ein Ende machen.“
    „Es wird nicht einfach sein“, gab sie zu bedenken. „Wir brauchen allein zwei Arbeitszimmer.“
    Chris legte den Kopf an ihre Schulter. „Vier Zimmer, ebenerdig, ruhig, grün, Balkon oder Terrasse“, fasste er zusammen.
    „Bezahlbar“, ergänzte Karin und sprach damit das größte Problem aus. Die Wohnungsmieten in Köln schossen langsam durch die Decke und eine ruhig gelegene Behausung mit etwas Grün drum herum war schier unerschwinglich.
    Aber Chris machte nur „Hmh“, und rieb seine Bartstoppeln an ihrem Arm. Im Geiste legte er sich schon einen Plan zurecht. Seine bevorzugten Klienten kamen aus dem Rotlichtmilieu und der Drogenszene. Menschen, die Augen und Ohren überall hatten und innerhalb weniger Stunden jede gewünschte Information beschaffen konnten. Viele davon waren bereit, sich für „ihren Herrn Doktor“ ein Bein auszureißen. Er würde also nur seiner alten Freundin Tinni und dem kleinen Theo sagen müssen, dass er eine Wohnung suchte, und die Rädchen würden ineinandergreifen. Irgendjemand kannte mit Sicherheit jemanden, der jemanden kannte, der wieder jemanden kannte …
    „Klüngel“ nannte man das in Köln, und der war nicht selten von Korruption und Bestechung geprägt. Aber es gab auch die harmlosen, freundlichen Seiten, die Chris in diesem Fall nutzen wollte. Wahrscheinlich würden sie in weniger als vier Wochen das Passende finden.
    Die Wohnung selbst stellte in seinen Augen also das geringste Problem dar. Viel schwieriger würde die Einrichtung werden. Er hatte vor ein paar Jahren die antiken Möbel seiner Tante geerbt, die zwar wunderschön waren, aber auch so wuchtig, dass man einen mittelgroßen Palast brauchte, um sie unterzubringen. In Karins Wohnung dagegen herrschte die luftige Leichtigkeit von hellem Kiefernholz und offenen Regalen. Und damit begann die eigentliche Schwierigkeit: Karin liebte nämlich seine monströse Couch und den Kirschholzschrank, der mit Aufsatz zirka zweimeterfünfzig hoch war. Chris dagegen bevorzugte ihren „schwedischen Stil“. — Er ahnte, dass es harte Auseinandersetzungen geben würde.
     
    „Warum macht Liebe mit dir immer so hungrig?“, brummelte Karin zwei Stunden später und kuschelte sich in seine Armbeuge.
    „Bin ich so anstrengend?“, lachte Chris.
    Sie richtete sich auf, die blaugrauen „Kieselaugen“ ruhig und ernst. „Ich möchte, dass wir uns immer nah sind.“
    „Werden wir, Liebes, werden wir.“ Er schob eine dieser widerborstigen Locken aus ihrer Stirn. Und wie immer, wenn er das tat, dachte er, dass sich in diesen Haaren Karins Charakter manifestiert hatte: ihre manchmal so schroffe Art, ihre Direktheit, ihr Dickschädel. So, wie ihre Haare durch nichts dazu bewegt werden konnten, eins wie das andere zu liegen. Immer wieder schaute hier und da eine Locke hervor, dick und drahtig.
    Karin legte ihre Hand auf seinen nackten Bauch und zwirbelte den blonden Flaum darauf. „Sag mal, Herr Anwalt, treten einstweilige Verfügungen eigentlich umgehend in Kraft?“
    „Bitte?“ Was sollte das jetzt? „Im Regelfall schon“, antwortete er irritiert.
    „Dann beantrage ich hiermit per einstweiliger Verfügung Rotwein, Baguette und Käse!“
    „Stattgegeben!“, rief er lachend und sprang aus dem Bett.
     

Dienstag, 6. November
     
    Chris gähnte herzhaft und sah enttäuscht aus dem Fenster in einen trüben, grauen Novembertag. Die Platane vor dem Haus warf gelbe Blätter ab; die Vögel im Park auf der anderen Straßenseite zwitscherten nur noch verhalten; der Himmel war wie Blei.
    Er zog den Gürtel seines dunkelblauen Morgenmantels enger um seine schlanke Taille und fröstelte. Wie anders sich der Herbst in Frankreich präsentiert hatte — vielleicht überall auf der Welt präsentierte, außer in Köln. Mit Schaudern dachte er an die tristen Monate, die den Menschen in der rheinischen Tiefebene
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