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Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder
Autoren: Anna Geller
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schnell vergangen, fand Chris. Sie waren in Chenonceau durch die Gärten gestromert, die Katharina von Medici angelegt hatte, und in der Altstadt von Tours in die hintersten Winkel vorgedrungen. Die Erkundung der Festung von Angers war beinahe zu einem Tagesprogramm ausgeartet, weil er sich einfach nicht sattsehen konnte an den riesigen Wandbehängen in den Kellergewölben. Als sie genug von Kultur hatten, wanderten sie die alten Treidelpfade direkt am Wasser entlang, machten Picknick und hielten ihre Gesichter in die noch warme Sonne.
    Natürlich hatte Karin fotografiert wie verrückt. „Die Loire im Oktober“ war ihr letzter Auftrag für dieses Jahr. Ein Bildband, der im nächsten Sommer erscheinen sollte.
    Mit Sicherheit würde sie noch den ganzen November mit der Loire beschäftigt sein, denn wie die meisten professionellen Fotografen bevorzugte sie analoge Kameras und bearbeitete die Bilder erst später am Computer. Wie sie Chris erklärt hatte, erzielte man mit dem Zusammenspiel beider Techniken die besten Ergebnisse. Die Filme mussten also entwickelt und belichtet werden. Danach würde sie digital an den Bildern herumfeilen, ehe die schwierige Phase der Vorauswahl kam. Und Chris wusste, dass höchstens die Hälfte der Aufnahmen ihre Gnade finden und dem Verlag vorgestellt würden.
    Er freute sich auf die ruhigeren Wochen, die danach folgten. Karin musste zwar Aufträge für das nächste Jahr an Land ziehen, die Ausrüstung auf Vordermann bringen und ihr Archiv ordnen, aber sie musste nicht mehr dauernd unterwegs sein, und sie würden mehr Zeit miteinander haben. Er konnte ja nicht bei jedem Auftrag mitfahren. Dafür sorgten schon seine Klienten, die vom Gericht anberaumten Termine und Petra Nix, seine Mitarbeiterin, deren einziges Bestreben es manchmal zu sein schien, seinen Kalender zu füllen.
    Aber auch im nächsten Jahr konnte er sich mit Sicherheit immer mal wieder ein paar Tage freischaufeln, um Karin zu begleiten. Polen fände er gar nicht schlecht, die masurischen Seen, zum Beispiel. Oder wenn Karin vielleicht Bilder liefern sollte zu einem Reiseführer Wales und Schottland, da würde er auch mal gerne …
    „Zu dir oder zu mir?“, schreckte Karin ihn aus seinen Träumereien. Sie fuhren gerade am Kraftwerk Weisweiler vorbei. Die von Scheinwerfern angestrahlten Betontürme pusteten unablässig Wasserdampf in die Luft. Im Hintergrund blinkten rote und gelbe Lampen auf den Strommasten.
    „Äh, was? Zu dir, hm?“
    Dieses verdammte Hin und Her, dachte er verärgert und fuhr sich mit beiden Händen durch den dunkelblonden Schopf. Sie würden bald darüber reden müssen. Es ging ihm zunehmend auf die Nerven. Sie wollten von Anfang an keine Wochenendbeziehung und hatten in diesen fünf Monaten auch nie das Bedürfnis danach verspürt. Also pendelten sie ständig zwischen seiner Wohnung in Köln-Ehrenfeld und Karins Bleibe im Stadtteil Klettenberg. Das wiederum hatte zur Folge, dass mal in dem einen und mal in dem anderen Kühlschrank gähnende Leere herrschte, nie die richtige Kleidung zur Hand war und ihre Freunde ihnen ständig hinterhertelefonierten. Die meisten waren schon dazu übergegangen, ihre Nachrichten gleich auf zwei Anrufbeantworter zu sprechen.
    Aber Chris hatte bisher nicht gewagt, das Thema „gemeinsame Wohnung“ anzuschneiden. Er wollte seine Einzelgängerin nicht verschrecken. Und auch er selbst war ein gebranntes Kind. Seine letzte Beziehung hatte acht Jahre gedauert, wovon sechs damit vergangen waren, dass er zu bequem und zu faul gewesen war, sich auf eigene Beine zu stellen. Mit Karin wollte er etwas anderes. Etwas, das nicht auf Bequemlichkeit, sondern auf Zuneigung beruhte.
    „Chris?“, fing sie plötzlich an.
    „Hm?!“
    „Unsere Wohnungen … Also, ich meine … wir könnten … wir sind ständig zusammen … also … Wir haben die doppelten Kosten und so … vielleicht könnten wir mal …“
    „Ich liebe dich, wenn du stotterst“, unterbrach er ihr Gestammel.
    „Nur, wenn ich stottere?“ Sie schaute ihn kurz an und schmunzelte. Eine ihrer widerspenstigen Locken war ihr in die Stirn gefallen.
    „Ausschließlich.“
    „He — eine Behinderung reicht mir“, lachte Karin.
    Unwillkürlich fiel sein Blick auf die knallroten Krücken, die zwischen den Vordersitzen lagen. Die gummibewehrten Enden ragten bis an den Schaltknüppel des Automatikgetriebes. Es war so selbstverständlich, dass Karin nur ein Bein hatte, dass er es manchmal vergaß. Seltsamerweise nahm er sie
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