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Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder
Autoren: Anna Geller
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Freitag, 2. November
     
     
    Claudias Müdigkeit war wie weggeblasen, als Onkel Rudolf sagte: „Komm. Es ist Zeit, die Kaninchen zu füttern.“
    Endlich ging es los! Sie schlüpfte schnell in ihren Anorak und die blauen Schuhe. Die hatten Klettverschlüsse. Das war praktisch. Da musste man sich nicht mit den Schnürsenkeln plagen und dann doch wieder von Mama helfen lassen … Mama … Ob sie sauer war? Mama und Papa sagten ja immer, dass sie niemals mit einem Fremden gehen sollte, weil manche Männer ganz böse waren. Und Oma redete oft davon, dass ungehorsame Kinder ins Fegefeuer kommen. In die Hölle, wo es so heiß ist, dass man vor lauter Flammen den Satan nicht sehen kann. Da wollte sie natürlich auf keinen Fall hin. Trotzdem war sie unartig gewesen — aber nur ein kleines bisschen. Denn der Onkel Rudolf war nicht fremd. Den kannte sie schon ganz lange. Und nett war er auch. Letzte Woche hatte er ihr Eis gekauft, ein paar Tage später eine Tüte Lakritzschnecken, und heute wollte er ihr seine beiden weißen Kaninchen zeigen. Zwei Kaninchen! Sie hatte zu Weihnachten nicht mal das eine bekommen, das sie sich gewünscht hatte.
    Onkel Rudolf sagte, seine Kaninchen lebten im Wald und kämen nur heraus, wenn es ganz, ganz dunkel ist. Sie kannte nur die anderen, die braunen. Die sah sie oft, wenn sie mit Oma im Grüngürtel spazieren ging. Abends hatte sie noch nie welche gesehen. Aber vielleicht war das bei weißen Kaninchen ja anders.
    Auf der Straße fasste Onkel Rudolf ihre Hand. Das mochte sie eigentlich nicht. Schließlich war sie kein Baby mehr. Aber sie hielt den Mund. Sonst würde er noch ärgerlich und zeigte ihr die Kaninchen doch nicht. Obwohl er den schweren Beutel mit den Möhren trug, ging er schnell. So schnell, dass sie kaum mithalten konnte. Vielleicht schwitzte er deshalb so. Sie sah die Tropfen, die an seinen Schläfen entlangliefen. Das sah ulkig aus.
    Als sie den Wald betraten, war es so dunkel, dass sie kaum noch etwas sehen konnte. Sie bekam ein bisschen Angst und war jetzt ganz froh, dass Onkel Rudolf ihre Hand hielt. Sie stiegen einen steilen Abhang hinunter. Unter ihren Schuhen raschelten die Blätter. Wenn es nicht so dunkel wäre, würde sie mit den Füßen durch das Blättermeer pflügen und einen Heidenlärm damit veranstalten. Das machte Spaß. Aber damit hätte sie sicher die Kaninchen vertrieben, die ganz unten waren, wie Onkel Rudolf sagte.
    Plötzlich ließ er ihre Hand los. Sie bekam einen Schubs, fiel und kullerte durch das Laub nach unten. Sie wollte sich aufrappeln, aber da war Onkel Rudolf schon über ihr. Er keuchte ganz komisch, und sein Gesicht sah gar nicht mehr lieb aus. Es war verzerrt wie die Fratze, die sie im Sommer auf der Geisterbahn gesehen hatte. Mit einem Ruck riss er ihren Anorak auf. Was machte er denn da? Es war doch viel zu kalt, um ohne Anorak draußen zu sein. Wenn das ein Spiel sein sollte, gefiel es ihr nicht.
    Sie wollte sich losmachen, ihn wegschieben, aber natürlich war er stärker als sie. Jetzt zerriss er ihr blaues Kleidchen und die Strumpfhosen. Die waren ganz neu. Da würde Mama aber wütend werden.
    Mit einem Mal musste sie ganz schlimm Pipi. Und Angst hatte sie auch. Schreckliche Angst. Weil das Kleid kaputt war, weil Onkel Rudolf das getan hatte. Der war ja gar nicht nett! Das war einer von den Männern, von denen Papa so oft sprach. Erschrocken begann sie zu weinen. Was sollte sie tun? Wehren! Sie musste sich wehren! Papa hatte gesagt, dass sie spucken, kratzen, treten, beißen sollte. Einfach alles tun, was sonst verboten war. Sie schlug um sich, trat nach Onkel Rudolf, grub ihre kleinen Fingernägel in seine Wangen. Aber er riss einfach ihre Ärmchen herunter und drückte sie auf den feuchten Boden.
    Oma hatte Recht mit dem Satan. Er war über ihr, heiß und stinkend. Jetzt drückte etwas auf ihre Oberschenkel. Sie schrie. Es tat so weh! Da klebte plötzlich etwas auf ihrem Mund. Überall tat es auf einmal weh. Viel mehr als der gebrochene Arm letztes Jahr.
    Noch einmal bäumte sie sich auf, wollte ihn an den Haaren reißen, ihn wieder kratzen. Und sie versprach dem lieben Gott und Oma, dass sie nie, nie wieder ungehorsam sein würde. Und ein Kaninchen wollte sie auch nicht mehr. Nur aufhören sollte es, endlich aufhören …
    Das war das letzte, was Claudia dachte.
    Es war der 2. November.
    Sie war sechs Jahre, acht Monate und zweiundzwanzig Tage alt.
     
    ********
     
    Vor Susanne Braun lag ein Bereitschaftswochenende voller
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