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Mantelkinder

Mantelkinder

Titel: Mantelkinder
Autoren: Anna Geller
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sauberen Stellen seines Sweatshirts.
    Mit einem verträumten Lächeln dachte er an Weihnachten zurück. An Karin, die in fassungslosem Staunen das Objektiv aus ihrem Päckchen zog. Ihm selbst war auch beinahe der Mund offen stehengeblieben, als er das mit Samt beschlagene Kästchen öffnete und darin eben jene Uhr lag, die Karin angeblich nicht gefallen hatte. Am Weihnachtsabend gab sie dann zu, dass sie ihr natürlich gefiel. Ganz außerordentlich sogar. Sie hatte nur jeden Verdacht zerstreuen wollen, dass er sie vielleicht als Geschenk unter dem Weihnachtsbaum finden würde.
    Am ersten Weihnachtstag musste Karin selbstverständlich ihr neues Objektiv ausprobieren. Auf einem langen Spaziergang mit Frauke und ihren Eltern machte sie extreme Nahaufnahmen: Regentropfen auf einem Tannenzweig; mit Reif überzogene Grashalme; der dürre Ast einer Hainbuche, die ihre braunen, im Wind raschelnden Blätter erst im Frühling abwerfen würde.
    Auf ausdrücklichen Wunsch der Zwillinge verbrachten sie den zweiten Feiertag mit den Seibolds. Nach einem wiederum langen Spaziergang gab es in der Stauderstraße eine deftige Brotzeit, die fast bis Mitternacht dauerte. Es war der Beginn einer stillen Freundschaft, die Kinder und Erwachsene gleichermaßen verband.
    Die Amseln kehrten zurück und zankten weiter. Ob sie eine Schaukel aufstellen sollten? Oder war man mit zehn schon aus diesem Alter raus? Wahrscheinlich war heutzutage sowieso eher ein Trampolin angesagt. Chris wandte sich ab und beschloss, mit den Zwillingen darüber zu reden.
    Nebenan stand Markus mit zwei dampfenden Kaffeebechern hinter Karin, die auf einem alten Stuhl saß und eifrig die Wand bearbeitete.
    „Karin?“ Er stellte die Becher außerhalb der Reichweite von fliegenden Tapetenstückchen auf den Boden.
    „Hm?“, brummte sie nur, ohne ihr Schaben zu unterbrechen. Neben ihr lagen die neuen Krücken. „Aubergine-metallic“. Der letzte Schrei, wie der Verkäufer im Sanitätshaus ihnen versichert hatte.
    „Warum hat sie das getan — Frau Albertini, meine ich?“
    Karin ließ die Spachtel sinken und drehte sich um. Die blonden Locken bildeten ein wüstes Durcheinander. Auf ihrer Nase prangte ein weißer Fleck und glitschige Tapetenreste klebten auf ihrer karierten Bluse.
    Sie schob sich eine Strähne aus der Stirn und antwortete dabei: „Weil sie sehr krank ist.“
    „Da oben?“ Markus ließ seinen rechten Zeigfinger an der Stirn kreisen.
    „Genau da.“
    „Und jetzt kommt sie ins Gefängnis?“
    Karin sah hilfesuchend zu Chris.
    „Ich glaube nicht“, sagte er hinter dem Jungen. „Weißt du, so ein Richter muss auch immer sehen, was das Beste für einen Angeklagten ist. Und wahrscheinlich ist es für Frau Albertini am besten, wenn sie in so eine Art Krankenhaus kommt, wo man ihr vielleicht helfen kann.“
    „Du meinst, in die Psychiatrie?“
    „Ja!“ War es richtig, dass Kinder darüber schon Bescheid wussten?
    „Und wenn sie wieder gesund ist?“
    Chris geriet ins Schwitzen. Wie brachte man Zehnjährigen die Feinheiten des Strafgesetzbuches bei?
    „Wird der Richter das prüfen“, sagte er schließlich. „Und vielleicht muss sie doch noch ins Gefängnis.“
    „Ist der Ballmann auch krank?“ Markus begann, Tapetenstückchen aufzuklauben.
    „Nicht so sehr wie Frau Albertini.“ Jedenfalls hat der erste Gutachter ihn voll schuldfähig eingestuft, dachte Chris und reichte Karin einen der Kaffeebecher.
    „Papa sagt, du sorgst dafür, dass er nie wieder aus dem Gefängnis rauskommt. Machst du das?“ Der Kleine sah ihn erwartungsvoll an.
    Jetzt schwitzte Chris erst recht. Er hatte keine Ahnung, wie die Sache ausgehen würde, ob das Gericht neben lebenslänglich auch noch auf „besondere Schwere der Schuld“ erkennen würde. Das kam darauf an, welche Sachverständigen Ballmann wie beurteilten.
    Ganz wohl in seiner Haut war Chris nicht, als er die rechte Hand zum Schwur hob und antwortete: „Mach ich. Großes Indianerehrenwort.“
     

Montag, 25. Februar
     
    „Hab ich dich! Eins — zwei — meins!“ Geräuschvoll drückte Hellwein die Entertaste.
    „Was treibst du da?“ Susanne nahm ihre Lesebrille ab und sah ihn verwundert an.
    „´Geschichte und Mythologie mitteleuropäischer Wildvögel`. Längst vergriffen, das Buch. Aber jetzt hab ich´s ersteigert!“
    „Vögel?“
    „Mein neues Hobby, ja.“ Hellwein strahlte sie gut gelaunt an.
    „Ich versteh kein Wort!“
    „Sieh mal, mein Handgelenk ist zwar zusammengeflickt, aber bis ich
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