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Was danach geschah

Was danach geschah

Titel: Was danach geschah
Autoren: James Kimmel
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    Ich kam im Bahnhof von Schemaja an, nachdem mein Herz aufgehört hatte zu schlagen und mein Hirn seine Tätigkeit unwiderruflich eingestellt hatte.
    Dies ist die medizinische Definition von Tod, auch wenn sich sowohl die Lebenden als auch, wie ich hier versichere, die Toten über dessen Endgültigkeit ärgern. Es gibt immer Grund zur Hoffnung, wie die Menschen sagen, und manchmal geschehen Wunder. Sogar nach dem Tod. Ich habe zum Beispiel entdeckt, dass, wird man am Ende doch nicht von einem Wunder am Leben gehalten, es immer noch die Möglichkeit gibt, am Jüngsten Gericht davor bewahrt zu werden, den Rest der Ewigkeit damit zuzubringen, sich den Tod anderer herbeizuwünschen.
    Ich wusste nicht, dass ich gestorben war, als ich den Bahnhof von Schemaja erreichte, und hatte auch keinen Grund, dies zu vermuten. Niemand sagt einem, dass das Leben vorbei ist, wenn es so weit ist. Was mich betraf, schlug mein Herz noch, und mein Hirn funktionierte auch. Ich hatte lediglich keine Ahnung, wo ich war oder wie ich dorthin gekommen war – der einzige Hinweis für mich, dass etwas Ungewöhnliches geschehen war. Ich saß einfach allein auf einer Holzbank in einem verlassenen städtischen Bahnhof mit einer hohen Kuppel aus verrosteten Stahlträgern und zerbrochenen Scheiben, die mit Ruß verschmiert waren. Ich erinnerte mich weder an eine Zugfahrt noch an ein Ziel. Eine schwach beleuchtete Tafel im Wartebereich zeigte die Ankunfts-, aber nicht die Abfahrtzeiten von Zügen an, und ich vermutete wie die meisten, die hierherkommen, dass die Tafel defekt war oder es Probleme mit den Gleisen für die abfahrenden Züge gab.
    Ich starrte zur Anzeigetafel hinauf und wartete auf einen Hinweis darauf, wo ich war oder zumindest, wohin ich fahren würde. Als ich diesen Hinweis nicht erhielt, erhob ich mich und blickte die Gleise entlang wie eine besorgte Reisende, die in der Ferne nach einem aufflackernden Licht oder einem einfahrenden Zug Ausschau hält. Die Gleise verschwanden in völliger Dunkelheit, die entweder von einem Tunnel oder einer schwarzen sternenlosen Nacht rührte. Wieder blickte ich zur Tafel hinauf, bevor ich mich verzweifelt im Bahnhof umsah: zehn Gleise und zehn Bahnsteige, alle leer; Fahrkartenautomat, Zeitungskiosk, Wartebereich, Schuhputzgerät – niemand da. Im Gebäude war es völlig still: keine Ankündigungen über Lautsprecher, keine Pfiffe, keine quietschenden Bremsen oder kreischende Luftkompressoren, keine rufenden Schaffner, sich beschwerende Fahrgäste oder bettelnde Musiker. Nicht einmal das Geräusch eines Besens, mit dem ein Hausmeister in irgendeiner Ecke den Boden fegte.
    Ich setzte mich wieder und stellte fest, dass ich ein schwarzes Seidenkostüm trug. Der Anblick des Kostüms vermittelte mir etwas Sicherheit. Ich war zu Lebzeiten Anwältin gewesen, und Anwältinnen tragen immer Kostüme, um sich weniger verletzlich zu fühlen. Dies hier war mein Lieblingskostüm, weil ich darin, wenn ich den Gerichtssaal betrat, am selbstbewusstesten war und ganz und gar nicht das Gefühl hatte, mich für die junge Frau, die ich war, entschuldigen zu müssen. Ich strich vorne den Rock glatt, bewunderte den leichten Stoff und die Webart, freute mich, wie er über meine Strümpfe glitt. Es war ein wirklich schönes Kostüm – eines, mit dem ich die Blicke meiner Kollegen, der gegnerischen Anwälte und selbst der Männer auf der Straße auf mich zog. Dieses Kostüm machte aus mir eine ernstzunehmende Anwältin. Doch das Beste war: Ich hatte es bei einem Ausverkauf ergattert – ein Power-Outfit und ein Schnäppchen. Ich liebte dieses Kostüm.
    So saß ich also allein auf einer Bank in diesem verlassenen Bahnhof, vernarrt in mein schwarzes Seidenkostüm, als ich einige kleine Flecken auf der Schulter und dem Revers der Jacke bemerkte. Die Flecken waren angetrocknet und gelblich weiß. Wahrscheinlich hatte ich mich mit Cappuccino bekleckert, meinem Lieblingskaffee. Mit einem lackierten, aber kurzgeschnittenen Fingernagel kratzte ich an den Flecken und erwartete, dass mir der Geruch von Kaffee in die Nase stieg. Doch es war ein ganz anderer Geruch, der in mein Bewusstsein drang: Babymilch.
    Babymilch? Habe ich ein Kind …? Ja, natürlich … ein Kind … ein Töchterchen … jetzt erinnere ich mich. Aber wie heißt sie? Ich glaube, der Name fängt mit einem S an … Susan, Sharon, Samantha, Stephanie, Sarah … Sarah? Ja, Sarah.
    Doch sosehr ich mich auch bemühte, ich erinnerte mich weder an Sarahs Gesicht
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