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Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt

Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt

Titel: Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt
Autoren: Christoph Marzi
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dem Dach führte, im Laufschritt. Arcadio Márquez blickte von seiner Arbeit hoch, als sie durch die Tür stürmte. Er kniete auf einem Hocker vor dem Tisch, den Oberkörper über die halb fertige Karte gelehnt, und kraulte sein Kinnbärtchen. Er hatte lockiges Haar, das ihm bis zur Schulter fiel und bereits ergraut war.
    »Catalina«, sagte er sanft, als sie atemlos vor ihm zum Stehen kam und in ihrer Tasche nach Tusche und Farbe kramte. »Wir müssen reden.«
    »Nein.« Das war alles.
    Catalina spürte, wie Arcadio Márquez ihr besorgt hinterhersah, während sie eilig die Leiter hinaufkletterte, die ins obere Geschoss führte, aber sie war sicher, dass er ihr nicht folgen würde.
    In der schlimmen Zeit am Anfang war er es gewesen, der sich um sie gekümmert hatte, auf seine leise und unaufdringliche Art. Er schien zu spüren, was in ihr vorging, und war für sie da, ohne sie zu bedrängen. Und auch heute respektierte er ihren Wunsch, allein zu sein, ohne weitere Nachfragen. Sie war ihm dankbar dafür.
    Die Windmühle konnte nur zwei Etagen vorweisen, die zugleich auch die einzigen beiden Räume waren – und obendrein noch ganz kreisrund. Arcadio Márquez lebte und arbeitete im Erdgeschoss (berücksichtigte man aber die Tatsache, dass die Windmühle auf dem Dach eines anderen Hauses stand, dann war es, streng genommen, natürlich kein Erdgeschoss).
    Catalina dagegen hatte das obere Stockwerk für sich. Es war ein winziger Raum, weil die Mühle nach oben hin spitz zulief wie ein Kegel mit einem rotem Dach.
    In der Mitte des Zimmers, gleich neben dem Arbeitstisch, befand sich die Königsspindel, die wie ein dicker hölzerner Stab aussah, der sich nach unten wand und die Bewegungen der Flügelwelle auf dem Dach übertrug. Die Spindel endete tief unten im Fundament der Windmühle, wo sich die rostige uralte Dynamo-Maschine befand, die aus den Umdrehungen der Spindel Elektrizität zu zaubern vermochte. Der so erzeugte Strom reichte normalerweise aus, um die Beleuchtung in Gang zu bringen, den Kühlschrank am Laufen zu halten und dem Radio die Melodien zu entlocken, die dreimal am Tag für eine Stunde erklangen.
    Catalina schlief auf einer alten Matratze gleich unter dem Kartentisch, was sie nicht im Geringsten als schlimm empfand. Den Gedanken, dass die Karten, die sie zeichnen durfte, so dicht bei ihr waren und das selbst noch im Schlaf, empfand sie sogar als äußerst beruhigend. Zudem ermöglichte es ihr dieser Schlafplatz, jederzeit, wenn ihr danach war, mit der Arbeit fortzufahren oder aber in tiefen Schlaf zu fallen, wenn sie während des Zeichnens von Müdigkeit übermannt wurde. Sie lebte mit den Karten und schlief in ihrer Mitte ein.
    Hier oben roch es nach dem festen Pergament, auf dem sie mit Tusche die Linien malte – und natürlich nach der Tusche selbst, deren Duft selbst wie eine schwere Farbe in der Luft schwebte.
    Die dicken Holzdielen knarrten laut, wenn man mit nackten Füßen darauf herumlief, wie Catalina es zu tun pflegte, wenn sie zu Hause war. In einem Land zu leben, wo man Socken an den Füßen tragen musste, konnte sie sich nie und nimmer vorstellen. Wie eine Gefangene würde sie sich dort vorkommen.
    »Du wirst dich erkälten oder in einen Splitter treten«, hatte der alte Márquez sie anfangs gewarnt.
    »Ich pass schon auf.«
    Danach hatte er es aufgegeben, seine neue Schülerin zu belehren.
    Catalina streifte die Sandalen ab, zog ihr blaues Kleid über den Kopf und schlüpfte in ein altes Hemd und Hosen aus Leinen, die ihr bis knapp über die Knöchel gingen. Dann kniete sie sich auf den Hocker vor ihren Kartentisch. Diese Haltung hatte sie sich bei Márquez abgeschaut. Es war die beste Körperhaltung, wenn man zeichnete. Man konnte sich schnell aufsetzen und die Karte als ein Ganzes betrachten, um dann, ebenso schnell, wieder ganz nah bei den Feinheiten zu sein, den kleinen Buchten und verwinkelten Pfaden, die es mit den Tuschestiften zu skizzieren galt, bevor, am Ende dann, die Farbe auf das Pergament aufgetragen wurde.
    Das Mädchen betrachtete die Linien, die sie gestern Abend und am Vormittag gezeichnet hatte. Das Original hing vor ihr an der Wand. Vorsichtig tastete sie mit dem Finger nach der Farbe.
    Sie war trocken.
    Gut so!
    Mit ein wenig Glück würde sie die Karte heute Nacht fertig zeichnen und am nächsten Morgen dann farbig illustrieren können. Jeden Abend arbeitete Catalina bis spät in die Nacht hinein. Sie konnte in diesen Stunden, wenn alles um sie herum ganz still war,
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