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Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt

Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt

Titel: Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt
Autoren: Christoph Marzi
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am allerbesten zeichnen. Die Konturen flossen ihr nur so aus der Hand und die Linien waren schwungvoll und lebendig.
    Arcadio Márquez ließ sie gewähren, denn am Ende zählte nur das, was sie gezeichnet hatte. Was sie reproduziert hatte. Denn bisher war es ihr nur erlaubt, die vom Kartenmacher gemachten Karten zu kopieren, was ein ebensolches Maß an Fertigkeit erforderte wie die Arbeit, die der Meister leistete. Dennoch waren es nur Kopien – und Catalina konnte den Tag nicht erwarten, an dem der Meister ihr erlauben würde, ein Original anzufertigen. Etwas, das einzigartig war und das jemand anderes dann kopieren würde.
    Sie bewunderte die Kunst des alten Márquez, aber insgeheim ärgerte sie sich auch darüber, dass er ihr so wenig zutraute. Dabei war sie sicher, dass sie seit Langem schon so weit war.
    An den Wänden in der Windmühle hingen überall Karten und Catalina hatte manch eine von ihnen detailgetreu kopieren müssen. Es gab eine Reproduktion der Weltkarte des Fra Mauro, gleich daneben hing eine Mappea Mundi aus dem Mittelalter, die auch Regionen jenseits der bekannten Welt aufzeigte. Im unteren Stockwerk, in der Küchenecke gleich neben dem Kamin, prangte die zerfledderte Kopie der Tabula Peutingerana, auf der alle Wege nach Roma führten, der Stadt der Kanäle und lebendigen Fluten. Einige frühe Entwürfe aus der Werkstatt Abraham Cresques hingen neben der Garderobe und eine portugiesische Planisphäre teilte sich über den Regalen den Platz mit einer botanischen Weltkarte, die ein gewisser Hercule Nicolet gefertigt hatte.
    Auf manchen dieser Karten waren weiße, unbeschriebene Flecken zu erkennen.
    »Das kommt daher, weil man die Welt damals noch nicht kannte.« So hatte der alte Márquez ihr die Flecken erklärt. »Die guten Kartenzeichner ließen die Stellen unbeschriftet. Denn das war ehrlich.«
    »Aber nicht alle Karten haben die weißen Flecken.«
    »Es gibt nur noch wenige Karten, die weiße Flecken zeigen. Irgendwann hat man sie verboten.«
    »Aber warum?«
    Der Kartenmacher hatte ihr statt einer Antwort eine Karte gezeigt. Monster bevölkerten die fremden Kontinente. In den Meeren tummelten sich Ungetüme mit breiten Mäulern, Tentakeln und Stacheln. Über den dichten Wäldern flogen Hexen und an den Rändern der Weltenkugel lauerten Teufel. »Nicht viele Menschen machen sich die Mühe, das Unbekannte zu verstehen«, hatte er erklärt und traurig dabei gewirkt. »Wenn Seefahrer einen Wal erblickten, dann war dies für sie der Beweis, dass tatsächlich Seeungeheuer existieren. Wenn Schiffe sanken, dann gab man den Seeungeheuern die Schuld. Bei Missernten und Krankheiten suchte man die Schuld oft bei denen, die anders waren als die meisten Menschen. Man schimpfte sie Wechselbälger, Nachtalbe, Hexen – und Schlimmeres.« Er hatte geseufzt. »Am Ende dann verstieß man sie. Jagte alles, das anders war, weit, weit fort. Oder verbrannte es auf den Scheiterhaufen. Zu viele Unschuldige mussten sterben, weil die Menschen nicht herausfinden wollten, was es mit den weißen Flecken wirklich auf sich hatte.«
    Catalina hatte an den Wind denken müssen und das, was ihre Eltern ihr einst gesagt hatten.
    »Die Könige und Staatsmänner, die solche Karten in Auftrag gegeben hatten, wollten keine weißen Flecken mehr auf ihnen sehen. Sie wussten nur zu gut, dass die Menschen immer einen Schuldigen brauchten. Jemanden, den man verantwortlich machen konnte für all das, was ihnen selbst nicht gelingen wollte.«
    »Deswegen mussten die weißen Flecken auf den Karten verschwinden«, hatte Catalina nachdenklich seinen Gedanken weitergeführt. »Sie haben lieber etwas erfunden, an das man glauben konnte.«
    Der Kartenmacher hatte genickt. »Nicht alle Menschen sind auch wirklich gute Menschen.« Dann war wieder jenes unternehmungslustige Leuchten in seinen Augen aufgetaucht, das normalerweise immer dort wohnte. »Aber diese Zeiten sind nun vorüber. Die Karten, die wir beide heute anfertigen, haben nicht länger weiße Flecken, weil es keine unbekannten Gebiete mehr gibt. Wir leben in einer Welt, in der das Wissen die Macht hat und nicht der Aberglaube.«
    Dann hatte er ihr erklärt, wie man einen Tuschestift benutzte und die Tinte auf dem Pergament mit einem trockenen Lappen abtupfte, damit bloß keine Kleckse zurückblieben.
    »Am Ende denkt noch jemand, dass der Klecks ein Berg sein soll.« Er hatte dem Mädchen zugezwinkert. »Das würde jene, für die wir die Karten anfertigen, dann vollends verwirren.
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