Malfuria. Das Geheimnis der singenden Stadt
in der Kochecke und kehrte mit einem winzigen Zettelchen zurück, das zerknittert und an den Ecken schon vergilbt war. Jemand hatte ein dickes Schiff daraufgemalt. Tief unter dem Schiff befanden sich zwei Wellenlinien und in einer Ecke des Blattes erkannte Catalina etwas, das sie entfernt an eine Harlekinmaske erinnerte.
»Sarita bat mich, allzeit einen Blick auf diese Zeichnung zu werfen«, sagte der Kartenmacher. »Jeden Tag sollte ich nachschauen, ob das Schiff noch auf den Wellen schwimmt.«
»Es schwimmt aber nicht auf den Wellen, sondern ein gutes Stück darüber.«
Der Kartenmacher nickte. »Du hast recht. Heute Morgen war noch alles so wie immer. Aber irgendwann am Nachmittag hat sich die Zeichnung verändert. Seitdem sieht sie so aus wie jetzt.«
Catalina betrachtete die Zeichnung mit zusammengekniffenen Augen. Düster wirkte das Schiff, obgleich es nicht viel mehr als eine Kontur war. Etwas, das ihre Mutter gezeichnet hatte. Es wirkte bedrohlich. Und verschlagen.
»Ich sollte dir etwas ausrichten, sobald sich die Zeichnung verändern würde, das war der Wunsch deiner Mutter.«
Jetzt wurde dem Mädchen erst richtig mulmig zumute. Was, in aller Welt, ging hier nur vor? Der strahlende Herbsttag schien auf einmal zu etwas zu werden, an das sie sich später nur ungern würde erinnern wollen. Es war, als geriete ihre Welt aus den Fugen. Als passiere etwas. Dinge, dachte sie, die da kommen, kündigen sich nur selten vorher an. Ihre Mutter hatte ihr das einmal gesagt, aber sie hatte nicht verstanden, was sie damit gemeint hatte. Jetzt glaubte sie zu fühlen, was Sarita ihr hatte mitteilen wollen.
»Was sollten Sie mir ausrichten?«
Der alte Kartenmacher stand ganz plötzlich auf und lief im Raum auf und ab. »Wenn die Zeichnung sich verändert, sagte Sarita damals, dann wird ein Schiff in die singende Stadt kommen. Sie sagte, dass es deinetwegen nach Barcelona kommen würde.«
»Wegen mir?« Sie war doch nur ein Mädchen. Noch nicht mal eine echte Kartenmacherin.
»Sarita Soleado«, sagte der alte Kartenmacher, »ist eine Hexe.«
So!
Jetzt war es ausgesprochen.
Arcadio Márquez schien irgendwie erleichtert zu sein.
Catalina nicht.
Sie starrte ihn an.
»Du hast mich richtig verstanden. Deswegen konnte sie diese Karten zeichnen, wie niemand sonst es zu tun vermochte.«
Das Mädchen dachte für einen Moment, dass sich die Wände der Windmühle zu drehen begannen. Die Gedanken rasten in ihrem Kopf herum wie eine Wolke aufgeschreckter Vögel. Das war einfach zu viel. Sarita Soleado, ihre Mutter, eine Hexe? Nein, das musste ein Irrtum sein. Und was war das für eine abenteuerliche Geschichte mit dem Schiff? Weswegen sollte irgendjemand nach ihr suchen sollen?
»Da ist noch etwas…«, fuhr Arcadio Márquez fort. Doch bevor er weitersprechen konnte, pochte es an der Tür.
Sie sahen einander an.
Wer sollte das sein? Kundschaft kam um diese Tageszeit normalerweise keine mehr.
Noch benommen von den seltsamen Neuigkeiten, sprang Catalina auf und ging zur Tür. Sie spürte die kalte Klinke in ihrer Hand, hörte das leise Knarren der Scharniere. Erst als die Tür mit einem Ruck ganz unsanft aufschwang und sie die hochgewachsene Gestalt mit der boshaft grinsenden Harlekinmaske erblickte, begriff sie, was die Zeichnung vorhergesagt hatte. Ein Schiff war in die Stadt gekommen. Und der Harlekin, dessen Augenschlitze finsterste Schatten waren, hatte gefunden, wonach er gesucht hatte.
Nicht Schatten, nicht Licht
Jordi Marí gestand sich ein, dass er niemals zuvor solche Angst gehabt hatte. Nicht einmal vor den Schlägen, die sein Vater austeilte, fürchtete er sich so sehr wie vor dem Harlekin-Mann. Selbst der zerbrochene Glühstab, der zu seinen Füßen lag, ließ ihn nicht so frösteln wie das Ding mit dem breiten schwarz-weißen Grinsen in seinem maskenhaften Gesicht.
So nah war der Junge der Maske gewesen, dass er die Kälte in der Dunkelheit dahinter sogar hatte riechen können. Er hatte sie gefühlt, wie man einen eisigen Hauch auf der Haut spürt, wenn ein Unheil ganz dicht an einem vorüberzieht.
Erschöpft rieb er sich über die Augen und sah sich in der Gasse um. Das Ding mit der Harlekin-Maske war fort. Jordi hatte keine Ahnung, wohin es verschwunden war. Darüber hinaus konnte er sich auch gar nicht erst erklären, wo in aller Welt es hergekommen war. Keine Menschenseele hatte sich in der Gasse herumgetrieben, bevor er mit der Gestalt zusammengestoßen war, da war er sich so gut wie sicher. Die
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