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Maienfrost

Maienfrost

Titel: Maienfrost
Autoren: Maren Schwarz
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Wochen hielt das hochsommerliche Wetter an. Obwohl Rügen der Ruf vorauseilt, eine der sonnenreichsten deutschen Inseln zu sein, stellte die lang anhaltende Hitzewelle auch für hiesige Verhältnisse eine eher ungewöhnliche Ausnahme dar. Sie verschaffte den Hotels und Gaststätten einen nochmaligen Urlauberzuwachs. Auf der ganzen Insel gab es kaum noch ein freies Hotelzimmer, geschweige denn eine unbelegte Privatunterkunft. Selbst die Zeltplätze waren so gut wie ausgebucht. Von früh bis spät brannte die Sonne von einem wolkenlosen Himmel herab. Und wenn man den Prognosen der Meteorologen vertraute, sollte sich an dem über ganz Deutschland liegendem Hoch auch in nächster Zeit nichts ändern. An den überfüllten Stränden tummelten sich die Touristen. Hoteliers und Ladenbesitzer rieben sich die Hände ob des glänzenden Geschäfts.
    Vor zwei Wochen hatte Henning sich einen gebrauchten, zwei Jahre alten Polo zugelegt. Aufgrund ständig verstopfter Straßen hatte er bislang jedoch wenig Lust verspürt, eine Spritztour zu unternehmen.
    Es war am Mittwoch, dem sechzehnten Juli, als er am frühen Nachmittag, einer Zeit, zu der er die meisten der Urlauber am Strand vermutete, zu seiner ersten größeren Fahrt aufbrach. Er wollte einen von Julius alten Stammkunden, den Krankheitsgründe daran hinderten, seine von ihm bestellte Ware selbst abzuholen, mit frischen Eiern und Obst aus seinem Garten beliefern. Wie erhofft, waren die Straßen um diese Uhrzeit frei und er kam zügig voran. Dennoch brauchte er mehr als eine Stunde, bevor er sein Ziel erreichte. Insgeheim gratulierte er sich dazu, einen Wagen mit Klimaanlage gewählt zu haben.
    Auf seinem Weg nach Juliusruh, das im Norden der Insel lag, wiesen ihn an Straßenbäumen befestigte Plakate auf den ›Theatersommer am Kap‹ hin. Die Ankündigungen darauf weckten sein Interesse. Ans Kap zu fahren, hatte er sich ohnehin schon seit langem vorgenommen. Henning entnahm den Anzeigen, dass die Aufführungen auf der Sommerbühne unter den Leuchttürmen und der Nebelstation stattfanden. Die Vorstellungen, die sonntags bis freitags geboten wurden, begannen jeweils um zwanzig Uhr dreißig. Für den heutigen Abend stand Shakespeares ›Romeo und Julia‹ auf dem Spielplan. Der Gedanke daran hatte etwas Reizvolles an sich. Henning versuchte sich zu erinnern, wann er das letzte Mal im Theater war. Es wollte ihm nicht einfallen. Kurzerhand beschloss er, dass es an der Zeit sei, dieses Defizit auszugleichen.
    Nachdem er seine Ware in Juliusruh ausgeliefert hatte, fuhr er nach Putgarten. Er ließ sein Auto auf dem ausgeschilderten Großraumparkplatz stehen und lief die letzten Meter bis zum Kap zu Fuß. Schon von weitem sah er die Leuchttürme aus einem Meer von Bäumen aufragen. Henning erinnerte sich, irgendwo einmal gelesen zu haben, dass dem Bau des kleineren der beiden Türme ein Entwurf Karl Friedrich Schinkels zugrunde lag.
    Nach einem ausgedehnten Spaziergang zum nördlichsten Punkt der Insel aß er auf der Terrasse einer kleinen gemütlichen Gaststätte in Vitt eine Portion Schollenfilet mit Bratkartoffeln. Obwohl er Appetit auf ein Bier verspürte, bestellte er sich ein Mineralwasser.
    Der Abend war angenehm mild und vom Meer her wehte eine erfrischende Brise, in die sich das Geschrei hungriger Möwen mischte. Sich den Seewind um die Nase wehen lassend, schlenderte er gemächlich zum Kap zurück, um sich eine Eintrittskarte zu kaufen.
    In einem urigen Obstgarten unter knorrigen Apfel- und Birnbäumen standen Bänke und Stühle für die Zuschauer bereit. Henning entschied sich für einen Sitzplatz in der zweiten Reihe. Ein steiler, terrassenförmig angelegter Hang bildete die Kulisse zu Shakespeares Klassiker. Kurz vor halb neun waren nahezu alle Plätze belegt. Die Aufführung begann mit dem Auftritt des gesamten in Schwarz gekleideten Ensembles, welches lautstark und vielstimmig den Prolog, die Geschichte der verfeindeten Familien Capulet und Montague zitierte. Henning war über die Professionalität der Schauspieler erstaunt. Es nötigte ihm Respekt ab, dass sie das Publikum trotz kaum vorhandener Bühnendekoration so tief zu beeindrucken vermochten. Allmählich begann es zu dämmern. Das gleichmäßig rotierende, weithin sichtbare Licht des die Szenerie überragenden Leuchtturms begann, seine Schatten zu werfen.
    Zur Pause war es bereits vollständig dunkel. Es roch nach Gegrilltem. Die Grillen zirpten und in der Luft lag fast schon greifbar noch immer der Zauber jener
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