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Maienfrost

Maienfrost

Titel: Maienfrost
Autoren: Maren Schwarz
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und Büsche, aus denen es vielstimmig zwitscherte, bildeten einen natürlichen Schutzwall um ihn und in seiner Mitte erhob sich eine kleine, grasbewachsene Insel. Das, was er bisher gesehen hatte, machte auf Henning, um es gelinde auszudrücken, trotz aller Reize einen stark verwilderten Eindruck. Doch bevor er dazu kam, dem Anwalt gegenüber seine Bedenken zu äußern, kamen aus dem hinteren Teil des Grundstücks, dem Obstgarten, laut kläffend zwei Hunde auf sie zu gerannt. Henning wich erschrocken zurück. Doch Dr. Stiller beruhigte ihn. »Keine Angst, das sind nur Rex und Asta. Die beiden sind völlig harmlos. Ihr Bellen ist lediglich Imponiergehabe«, fügte er belustigt hinzu.
    Den Hunden folgend, kam ihnen ein Mann entgegen. Er war klein und untersetzt und besaß ein volles, rundes Gesicht. Auf seinem kahlen Schädel saß eine speckige Schirmmütze. Gutmütig lächelnd streckte er Henning seine Hand entgegen: »Herzlich willkommen«, begrüßte er ihn freundlich. »Ich bin Wilhelm Boström, ein Freund ihres verstorbenen Onkels. Nach seinem Tod habe ich mich um die Tiere gekümmert und hin und wieder nach dem Rechten gesehen.«
    Henning bedankte sich. Verstohlen musterte er Wilhelm. Er erinnerte ihn an Heinz Erhardt, den Komiker. Auch er hatte ein so offenes gutmütiges Gesicht und ein so verschmitztes Lächeln wie sein Gegenüber. Henning fand ihn auf Anhieb sympathisch.
    Ihnen vorangehend, führte Wilhelm sie zum Wohngebäude. Auf dem Weg dahin kamen sie an mehreren Geflügelställen, aus denen ihnen munteres Gackern und Schnattern entgegen schallte, vorbei.
    Der erste Eindruck, den Henning von Julius einstiger Heimstatt gewann, war ernüchternd. Das, was er da vor sich sah, glich vielmehr einer ärmlichen Kate als einem Wohnhaus. Über den einstmals weiß getünchten Mauern lag ein schmutzig grauer Schleier. Das Rieddach überzogen Moose und Flechten. Henning erkannte auf den ersten Blick, dass es dringend einer Erneuerung bedurfte. Fenster, deren blinde Scheiben schon lange nicht mehr geputzt worden waren und an deren Wetterschenkeln sich die Farbe gelöst hatte, ergänzten den traurigen Anblick.
    Beklommen folgte Henning den beiden Männern ins Innere des Hauses, dem noch immer die unverkennbare Ausdünstung eines ungewaschenen alten Mannes anhaftete. Als er noch seinen Dienst bei der Polizei versah, war er des Öfteren in Häuser gekommen, in denen es genauso penetrant roch. Er dachte, dass alte Männer besser nie ihre Ehefrauen überleben sollten – vorausgesetzt, sie hatten eine. Doch wer konnte sich das schon aussuchen?
    Schaudernd versuchte Henning sich vorzustellen, wie Julius hier gehaust haben musste. Jeder Winkel des Gebäudes atmete beißende Verwahrlosung aus. Überall hatte sich der Schmutz festgesetzt. Der Verfall war unübersehbar.
    Die Räume, die sie durchschritten, waren schlicht, beinahe schon karg und ohne jeden Aufwand möbliert. Es gab weder Bilder noch sonstige Hinweise, die etwas über die Persönlichkeit von Julius Bachmann hätten preisgeben können. Hätte Henning die Atmosphäre des Hauses beschreiben müssen, so hätte er sie als sachlich, wenn nicht sogar unpersönlich, bezeichnet. Die Wände mit ihren vergilbten Farben schrieen förmlich nach einem frischen Anstrich, so wie das ganze Gebäude einer gründlichen Generalreinigung bedurfte. Bis vor kurzem wäre Henning der bedauernswerte Zustand all dessen gar nicht bewusst geworden. Doch, nachdem er selbst monatelang in einer ähnlich unwürdigen Lage dahin vegetierte, erschienen ihm die vorgefundenen Verhältnisse nun umso unerträglicher. War er vom Regen in die Traufe gekommen?
    Wilhelm, der neben ihm stand und seine Gedanken zu erahnen schien, brachte die Sache auf den Punkt: »Ihr Onkel Julius war eine Seele von Mensch. Ein Reinheitsfanatiker hingegen war er nie. Und wie unschwer zu erkennen ist, hat er sich auch nie um Äußerlichkeiten geschert. Vielmehr lag ihm daran, mit seinen Mitmenschen, den Tieren und der Natur in Einklang zu leben. Ich rate Ihnen daher, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Sie glauben gar nicht, wie viel Wasser und Seife sowie etwas frische Farbe bewirken können. Noch ein paar neue Möbel dazu und ich verspreche Ihnen, dass Sie zu Haus bald schon nicht mehr wieder erkennen werden«, bemerkte er mit entwaffnender Sachlichkeit. »Wenn Sie wollen, helfe ich Ihnen gerne beim Entrümpeln. Malen«, fügte er augenzwinkernd hinzu, »kann ich übrigens auch ganz passabel. Von mir aus kann es schon
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