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Maienfrost

Maienfrost

Titel: Maienfrost
Autoren: Maren Schwarz
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Wissen nach, gingst du noch nicht einmal zur Schule. Sicher wirst du dich nun fragen, weshalb ich dich nach all den Jahren in meinem Testament berücksichtige.
    Die Antwort ist denkbar einfach: es gibt sonst niemanden. Als eingeschworener Junggeselle habe ich weder Kinder noch sonstige Verwandte, die als Erben infrage kämen. Um es vorwegzunehmen, ich bin keinesfalls wohlhabend. Ich besitze lediglich etwas Land, ein paar Tiere und ein kleines Häuschen, das ich nun an dich weitergeben möchte. Sicher stellt dieses Anwesen keinen großen materiellen Wert dar, aber mein Herz hängt dennoch daran. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dass die Arbeit von Jahren umsonst war. Komm doch einfach her und sieh es dir an. Möglicherweise erinnerst du dich dann auch wieder an die unbeschwerten Sommertage deiner Kindheit, die du mit deiner Mutter hier verbrachtest. Du hast damals auf mich einen glücklichen Eindruck gemacht. Leider war es uns nicht vergönnt, uns näher kennen zu lernen. Ich hätte gerne gewusst, was aus dir geworden ist und wie du dich zum Mann entwickelt hast. Vielleicht hätte ich nach der Wende, als erstmals wieder die Möglichkeit dazu bestand, hartnäckiger nachforschen sollen, um dich ausfindig zu machen. Doch nun, da ich diese Zeilen verfasse und fühle, wie meine Kraft merklich schwindet und das Leben aus mir zu weichen beginnt, fürchte ich, es ist zu spät dafür.
    Wenn dich dieses Schreiben erreicht, weile ich nicht mehr auf dieser Welt. Tief in meinem Herzen hoffe ich, dass du mein Erbe antrittst. Doch egal wie du dich entscheiden magst, ich wünsche dir für die Zukunft alles erdenklich Gute.
    Dein Onkel Julius
    Ungläubig ließ Henning den Brief sinken. Schemenhaft tauchten aus den Tiefen seiner Erinnerung längst vergessen geglaubte Bilder auf. Er vermeinte, das Rauschen des Meeres zu hören und die salzige Luft in seinen Lungen zu spüren.
    Julius Bachmanns Brief rief Henning die Wärme und Geborgenheit eines längst vergangenen Sommers ins Bewusstsein zurück. Für einen Augenblick war er wieder fünf Jahre alt. Das Geschrei der Möwen drang an sein Ohr und er spürte den wärmenden, feinkörnigen Sand unter seinen nackten Fußsohlen. Unerwartet heftig überkam ihn mit einem Mal eine unendliche Sehnsucht, all das wieder zu sehen. Unbemerkt stahlen sich zwei winzige Tränen aus Hennings Augenwinkeln. Sein Blick verschleierte sich und er versank in ein Universum wohltuenden Vergessens, in eine Zeit in der die Welt, seine kleine Welt, noch heil und in Ordnung gewesen war. Die Erinnerung daran hatte etwas Tröstliches an sich.
    Die Abenddämmerung hatte den Raum, in dem er lag, unmerklich in ein sanftes, weiches Licht getaucht. Mit der ganzen Schärfe seines Verstandes wurde Henning in diesen Minuten klar, dass der Brief, den er noch immer in seinen Händen hielt, jenen Strohhalm darstellte, mit dessen Hilfe es ihm gelingen konnte, aus dem Sumpf der teuflischen Abhängigkeit zu entkommen. Ein völlig neues, durchaus verheißungsvolles Leben tat sich vor ihm auf. Er hätte wieder eine Aufgabe, der er sich widmen konnte. Unbewusst war es wohl dieses Gefühl, dass ihn sein Leben lang antrieb und erhielt. Zu nichts mehr nütze zu sein, keinen Sinn mehr in seinem Dasein zu sehen, das war das schleichende Gift, das zunächst seine Seele und dann dank Bruder Alkohol auch seinen Körper zu zerstören suchte. Die Antwort war so simpel, dass er sich verwundert fragte, weshalb er nicht schon viel eher darauf gekommen war. Stattdessen hätte er sich um ein Haar kampflos seinem Selbstmitleid ergeben.
     
    Wochen später, an einem grauen und verregneten Frühlingstag, saß er im Zug Richtung Norden. Mit jedem Meter, dem er sich seinem Ziel, der Ostsee, näherte, ließ er ein Stück seiner bisherigen Existenz hinter sich.
    Es schien ihm wie ein Wunder, was der Brief seines Patenonkels in der kurzen Zeit, die seither vergangen war, bewirkt hatte.
    Hennings erster Schritt war es, dem Alkohol zu entsagen. Sein alter Kampfgeist hatte sich zurückgemeldet. Wieder ein Ziel vor Augen zu haben, beflügelte ihn und verlieh ihm ungeahnte Kräfte. Wenn die Versuchung ihn dennoch überfiel, was anfangs oft geschah, zwang er sich mit eisernem Willen dazu, sich ihr zu widersetzten. Von neu erwachtem Elan erfüllt, kleidete er sich neu ein und ging daran, auch rein äußerlich wieder einen Menschen aus sich zu machen. Er ließ sich die Haare schneiden, rasierte sich wieder regelmäßig und brachte die Müllhalde, zu der das
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