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Maienfrost

Maienfrost

Titel: Maienfrost
Autoren: Maren Schwarz
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zweite war an Leona, seine Enkeltochter, gerichtet.
     
    Als diese zwei Tage später beim Durchsehen der Post auf den Brief ihres Großvaters stieß, meldete sich augenblicklich ihr schlechtes Gewissen. Sie hätte ihn schon längst einmal wieder besuchen müssen. Außer ihm hatte sie schließlich niemanden mehr. Ihre Eltern waren lange Zeit schon tot. Die Hände der jungen Frau zitterten, als sie den Bogen Papier entfaltete. In krakeliger, kaum zu entziffernder Handschrift bat Albert sie, zu ihm zu kommen. Er wollte sein einziges Enkelkind noch einmal sehen, um etwas Wichtiges, wie er schrieb, mit ihr zu besprechen. Die an sie gerichteten Zeilen waren so eindringlich verfasst, dass Leona alle Termine absagte und sich gleich am darauf folgenden Wochenende auf den Weg zu ihrem Großvater machte. Zu diesem Zeitpunkt konnte sie noch nicht ahnen, dass sie zu spät kommen würde. Eine halbe Stunde bevor sie das Pflegeheim erreichte, verschied Albert Pirell in aller Stille. Ein friedlicher Ausdruck ruhte auf seinem Gesicht. Womöglich rührte er daher, dass, sollte er seine letzten Minuten bewusst wahrgenommen haben, er sie in der Gewissheit erlebte, alles in seiner Macht stehende veranlasst zu haben.
    Leona blieb nur noch, sich um die nun anstehenden Formalitäten und die Ausrichtung der Trauerfeier zu kümmern.
    Noch bevor der Termin für Albert Pirells Beisetzung feststand, erreichte sie ein Anruf seines Notars. Er bat sie, in seine Kanzlei zu kommen. Er hätte ihr, so teilte Herr Wollschläger Leona mit, eine Mappe mit überaus wichtigen, für sie bestimmten Unterlagen aus dem Nachlass ihres Großvaters zu überreichen.
    Leona fragte sich wiederholt, worum es sich dabei handeln mochte. Ein paar Tage später hielt sie einen Hefter von beträchtlichem Umfang, versehen mit einem Schreiben ihres Großvaters, in ihren Händen.
    Wieder zu Hause entfaltete sie den Brief und las:
    Meine liebe Leona, wenn du diese Zeilen liest, dann bin ich für immer von dir gegangen. Verschwende deine Zeit nicht, um mich zu trauern. Nutze sie lieber, um mir eine letzte Bitte zu erfüllen.
    Wie du vielleicht noch weißt, gelang es mir nicht, die ursächlich zum Tode führenden Umstände im Fall Austen/Küster zu klären. Dass ich darin versagte, hat mich immer belastet. Mein Gesundheitszustand erlaubte es mir leider nicht mehr, den Dingen aus eigener Kraft auf den Grund zu gehen. Aber auch wenn es nach dem perfekten Mord aussah, weigere ich mich noch immer, daran zu glauben. Vielmehr bin ich davon überzeugt, dass es eine plausible Erklärung geben muss. Nur leider blieb sie mir bislang verborgen. Meine ganze Hoffnung ruht nun auf dir. Schon als ich hörte, dass du Medizin studieren willst, wusste ich, dass mein Anliegen bei dir bestens aufgehoben sein würde. Ich weiß, dass du dich, genau wie dein lieber Vater, Gott hab ihn selig, für Kinderheilkunde entschieden hast . Aber vielleicht trägt der Inhalt beiliegender Mappe ja dazu bei, deinen Entschluss noch einmal zu überdenken. Es würde mich aufrichtig freuen, wenn du dich dazu durchringen könntest, dich auf Rechtsmedizin zu spezialisieren. So makaber dieses Gebiet anmuten mag, kann ich nur jeden angehenden Arzt ermutigen, sich eingehend damit zu beschäftigen. Bedenke, wie viel Nützliches die Pathologie schon herauszufinden vermochte und welche Fortschritte, vor allem auf dem Gebiet der Forschung, sie bislang bewirkte. Ergreife die Chance! Ich kenne dich und weiß daher, dass du die besten Voraussetzungen mitbringst, um in diesem Fach erfolgreich zu sein. Ich kann verstehen, wenn du zögerst, um diesen Schritt erst einmal gründlich zu überdenken. Aber ich habe dennoch die Hoffnung, dass du, schon um mir meinen letzten Wunsch zu erfüllen, den von mir empfohlenen Weg einschlägst. Es tut mir Leid, dass uns nicht die Zeit blieb, uns persönlich über vorliegenden Fall auszutauschen. Aber ich bin gewiss, dass er bei dir in kompetenten Händen ruht. Wenn ihn jemand aufklären kann, dann du. Sollte es einst soweit sein, wovon ich überzeugt bin, dann bitte besuche mein Grab und berichte mir. In dem festen Glauben daran, dass dieser Tag kommen wird, werde ich auf dich warten.
    In Liebe dein Großvater
    Betroffen ließ Leona den Brief sinken. Während sie das soeben Gelesene noch einmal überdachte, schweifte ihr Blick in weite Ferne. Zögerlich griff sie nach der Mappe. Sie löste die beiden Gummibänder, die sie zusammenhielt. Zuoberst lag eine Fotografie. Leona starrte wie gebannt darauf.
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