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Maienfrost

Maienfrost

Titel: Maienfrost
Autoren: Maren Schwarz
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Soll er sehen, wie er damit klarkommt.«
    »Glaubten Sie wirklich, damit durchzukommen?«
    »Spielt das noch eine Rolle? Schließlich haben Sie doch erreicht, was Sie wollten. Schon bei unserer ersten Begegnung ahnte ich, dass Sie mir Schwierigkeiten bescheren würden.«
    Von Ferne näherte sich Sirenengeheul. Lauschend hob Pascal Austen den Kopf. Erst in diesem Moment schien ihm bewusst zu werden, dass es vorbei war. Ein letztes Mal flackerte sein Kampfgeist auf und ein irres Glitzern trat in seine Augen. »Sie haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht!«, stieß er hervor. »Einen Austen steckt man nicht ins Gefängnis. Ihr kriegt mich nicht. Ihr nicht.« Das Folgende lief in so blitzartiger Geschwindigkeit ab, dass sich Henning keine Möglichkeit bot, die sich vor seinen Augen abspielende Szene zu verhindern. Ohne sich der auf ihn gerichteten Waffe bewusst zu sein, ließ Pascal Austen seine über dem Kopf erhobenen Arme nach unten sausen. Ein weiterer Handgriff, und die Abdeckung seines Siegelrings, der Henning schon bei seinem ersten Besuch aufgefallen war, sprang auf. Eine Kapsel kam zum Vorschein. Zum Statisten degradiert, musste der Kommissar mit ansehen, wie sie, wie von Geisterhand bewegt, in Pascal Austens Mund verschwand.
    Es knackte. Er sah ihn die Kapsel hinunterwürgen. Plötzlich hing ein kaum wahrnehmbarer Bittermandelgeruch im Raum. Zyankali schoss es Henning durch den Kopf. Gleichzeitig assoziierte er, das Zyankali der Trivialname von Kaliumzyanid war. Welche Ironie des Schicksals dachte er bitter.
    Noch immer zu keiner Reaktion fähig, sah er, wie Pascal Austen von heftigen Krämpfen geschüttelt, von der Kiste auf der er saß, rutschte und auf dem nackten Betonboden aufschlug. Seine Gesichtsfarbe hatte einen rosigen Hauch angenommen. Der Kommissar wusste aus Erfahrung, dass Blausäure, wie man Zyankali noch zu nennen pflegte, meist innerhalb kürzester Zeit zum Tod führte. Mit Grauen kramte er sein Wissen darüber hervor. Ihm war bekannt, dass es das Atemzentrum lähmt. Zwar konnte man noch eine Zeit lang atmen, aber den Lungen war es nicht mehr möglich, Sauerstoff mit der Atemluft aufzunehmen. Der Zellstoffwechsel war unterbrochen. Die Folge war, dass man unweigerlich innerlich erstickte. Ein weiterer schrecklicher Aspekt drängte sich ihm auf, als er daran denken musste, dass Zyklon B unter Hitler als Massenvernichtungsmittel in den Gaskammern zum Einsatz kam. Auch Anton Austens Frau und Kinder fanden so den Tod. War die von ihm besorgte Blausäurekapsel dafür auserkoren, Pascal Austen für die Sünden seiner Väter büßen zu lassen? Henning beschlich ein ganz eigentümliches Gefühl bei dieser Frage.
    Irgendwo hatte er einmal gelesen, dass schon 150 Milligramm Zyankali ausreichten, um sich umzubringen. Er zwang sich, Pascal Austen anzusehen. Die ihm bekannten, mit qualvollem Ersticken einher gehenden Symptome, waren unübersehbar. Ein gurgelndes Röcheln von sich gebend, wandte er sich auf dem Boden. Er litt unter schrecklichen Krämpfen und würgendem Erbrechen. Sein grotesk verzerrtes Gesicht ließ erkennen, dass er mit dem Tod rang. Henning konnte sich weder vom Fleck rühren, noch sagen, wie viel Zeit inzwischen verstrichen war. Irgendwann verlor Pascal Austen das Bewusstsein. Obwohl es ein sinnloses Unterfangen war, bäumte sich sein Körper noch mehrmals auf, zuckten seine Glieder in dem vergeblichen Versuch, das drohende Ende abzuwenden. Als auch seine letzten Reserven aufgebraucht waren, blieb er, einem riesigen Insekt gleich, reglos auf der Seite liegen. Da endlich löste sich Hennings Starre. Auf Beinen, die so schwer waren, dass sie ihn kaum mehr zu tragen vermochten, näherte er sich dem Bewusstlosen. Pascal Austens Schleimhäute und seine Haut wiesen eine hellrote Färbung auf. Sein Kopf ruhte in einer Lache Erbrochenem. Henning würgte. Als sein Magen sich beruhigt hatte, zwang er sich, Pascals rechtes Augenlid nach oben zu ziehen. Eine starre Pupille blickte ihm entgegen. Da wusste er, dass es vorbei war. Der Tote lag da wie ein Embryo im Mutterleib. Ihm wurde ganz seltsam zumute. Verwundert fragte er sich, ob er am Ende gar Mitleid für ihn empfand. Er wusste es nicht. Wahrscheinlich lag sein Gefühl darin begründet, dass er sich noch immer nicht vorstellen konnte, was man Pascal Austen angetan, seiner kleinen Kinderseele zugemutet hatte. Kein Wunder, dass sein Wahrnehmungsvermögen einen Knacks davongetragen hatte. Nicht, dass er ihn entschuldigen wollte. Seine Taten waren
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