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Maienfrost

Maienfrost

Titel: Maienfrost
Autoren: Maren Schwarz
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Nacht von Verona, in der Romeo Julia seiner Liebe versicherte.
    Nach der Pause erging an das Publikum die Aufforderung, die Sitzplätze zu verlassen. Einer steilen Treppe nach oben folgend, nahm es Teil an Romeos Reise nach Mantua, dem Ort seiner Verbannung. Das Haus des Apothekers, von dem Romeo das für ihn tödliche Gift erhielt, stellte den nächsten Schauplatz dar. Kurz vor dem Ende des Stückes führte ein von Teelichtern gesäumter Weg die Zuschauer zu Julia, jener blond gelockten, zartgliedrigen Elfe, die, ganz in Weiß gekleidet, in der Gruft der Capulets aufgebahrt ruhte. Die ganze Szene hatte etwas Gespenstisches an sich, das von den langen Schatten des Leuchtfeuers noch verstärkt wurde. Die Nacht schien noch um eine Nuance schwärzer zu werden als Julia, in diesem Punkt abweichend vom Originaltext, sich mit leichenblasser Miene die Kehle durchtrennte und tot auf ihr Lager sank. Das anwesende Publikum war tief beeindruckt. Auch Henning fiel es schwer, sich von dem von flackerndem Fackellicht beleuchten Anblick des Liebespaares zu lösen. Vielleicht lag es auch daran, dass ihr tragischer Tod so erschreckend echt wirkte. Henning wusste es nicht zu sagen. Noch ganz in Gedanken verließ er als einer der Letzten den Schauplatz. Eine Arkonabahn stand bereit, um die Besucher der Veranstaltung zum Parkplatz zu bringen. Henning entschied sich dafür, den Weg zu Fuß zurückzulegen. Er brauchte einfach noch etwas Zeit, um das eben Gesehene in sich nachwirken zu lassen. Das Stück hatte ihn tief ergriffen.

4
    Zwei Tage später, am Freitag, dem achtzehnten Juli, brachen Maria Johanson und ihr Mann Frederik am frühen Morgen zu einer Vogelstimmenwanderung auf. Viertel nach vier verließen sie ihre Ferienwohnung, die in der Nähe des Jasmunder Nationalparks lag. Sie schlugen den Weg entlang der Wissower Klinken in Richtung Stubbenkammer ein. Angesichts der frühen Stunde waren sie weit und breit die einzigen Spaziergänger. Sie folgten dem als Wanderstrecke ausgewiesenen Waldweg in Richtung Königsstuhl. Dank ihres täglichen Lauftrainings kamen sie zügig voran. Es war kurz vor sechs, als sie das Hochufer in Höhe der Viktoria-Sicht erreichten, auf dessen mit einem Metallgeländer gesicherten Plattform dereinst schon Kaiser und Könige standen, um den herrlichen Blick auf die Kreideküste und die Wellen der blauen Ostsee zu genießen. Bizarre, vom vielen Regen ausgespülte Kreideformationen fielen aus Schwindel erregender Höhe schroff zum tief unten liegenden Strand hin ab.
    Das von diesem Punkt der Insel aus in der Sonne strahlende Weiß der Kreidefelsen und das Grün der Buchenwälder hatten schon etlichen Malern und Schriftstellern als Inspiration für ihre Werke gedient. Wer seinen Blick von hier oben hinab schweifen ließ, dem drängte sich bei der sich bietenden Aussicht unweigerlich Caspar David Friedrichs Gemälde: ›Kreidefelsen auf Rügen‹ ins Bewusstsein. An jenem Sommermorgen jedoch bildete besagter Ort die Kulisse für ein Drama, dessen grausige Wirklichkeit Maria Johanson, die die Leiche als Erste entdeckte, in eine gnädige Ohnmacht fallen ließ.
    Mitten auf der Plattform der Viktoria-Sicht, im Licht der Morgensonne, lag eine junge Frau, beinahe noch ein Mädchen. Sie trug ein weißes Brautkleid und in ihrem langen, schwarz gewellten Haar war ein Schleier befestigt. Sie lag nicht einfach da, nein, bei genauerer Betrachtung schien es, als sei sie kunstvoll aufgebahrt worden. Nichts wirkte zufällig.
    An ihren zierlichen kleinen Füßen steckten hochhackige weiße Pumps. Ihre Hände waren sorgfältig über der Brust gefaltet worden und hielten eine einzelne weiße Lilie umschlungen. Der Anblick der Frau hatte etwas sonderbar Unwirkliches an sich. Wäre da nicht diese hässlich klaffende Wunde an ihrem Hals gewesen, man hätte meinen können, sie schliefe nur. Doch die Tiefe des Schnittes, die bewirkte, dass ihr Kopf fast vollständig vom Rumpf abgetrennt wurde, und das Blut, das Teile ihres Brautkleides dunkelrot durchdrang, verriet, dass sie bestialisch ermordet worden war. Das Paradies hatte seine Unschuld für immer verloren.
     
    An diesem Abend wartete Henning vergebens auf Peer. Als er beim Frühstück am nächsten Morgen die Ostseezeitung überflog, wurde ihm sogleich klar, weshalb sein junger Freund ihn versetzt hatte. Die fett gedruckte, auf der Titelseite platzierte Schlagzeile: »Leichenfund im Jasmund«, war schließlich unmöglich zu übersehen.
    Erschüttert las Henning den Artikel, der
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