Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Magma

Magma

Titel: Magma
Autoren: Thomas Thiemeyer
Vom Netzwerk:
herantrauten wie Ella.
    Doch in diesem Moment hätte sie lieber am Ufer eines Lavasees gestanden, als hier im Vorbereitungszimmer auf ihre Kreuzigung zu warten. Ein Blick auf die große Wanduhr zeigte ihr, dass sie noch etwa sieben Minuten Zeit hatte, ehe sie vor die hungrige Meute treten musste. Während sie die Seiten ihres Vorlesungsmanuskripts zurück in ihre lederne Aktentasche stopfte, nutzte sie die Gelegenheit, um den Inhalt noch einmal zu überfliegen. Es war schon lange her, dass sie das letzte Mal vor Studenten gesprochen hatte. Damals war sie selbst noch Studentin gewesen. Zwar war sie es als Spezialistin für Vulkanologie und Plattentektonik gewohnt, vor Leuten zu stehen, die sich in der Materie auskannten, aber einem Erstsemester Begriffe wie
Kontinentaldrift, Konvektionsstrom
und
Subduktionszone
zu erklären, dazu brauchte es die Fähigkeit zur Vereinfachung und bildhaften Darstellung. Zwei Tugenden, die man als Vollblutakademiker schnell verlernte. Als sie die Seiten überflog, kamen die alten Erinnerungen wieder hoch. Sie dachte an ihren ersten Tag in der Uni, an das Gedränge bei der Einführungsveranstaltung, den hoffnungslos überfüllten Hörsaal und das Geschiebe und Gedränge bei der Verteilung der begrenzten Seminarplätze. Sie konnte sich noch genau an das Gefühl erinnern, wie sie zum ersten Mal den Hörsaal betreten hatte, sie erinnerte sich an den Anblick der hölzernen Stuhlreihen und der eichengetäfelten Wände. Und vor allem konnte sie sich an den Geruch erinnern, der die geheiligten Hallen durchströmt hatte. Nichts war damit vergleichbar. Ella musste lächeln, als ihr einfiel, wie sie damals von den anderen wegen ihrer Umhängetasche gehänselt worden war. Der Umhängetasche, in der sie wochenlang alle Hefte und Bücher mit sich herumgeschleppt hatte – bis ihr ein Kommilitone gesteckt hatte, dass es die komplette Vorlesung auch als Buch zu kaufen gab.
    Ihre Angewohnheit, sich immer in die erste Reihe zu setzen und bei jeder Aussage des Dozenten zu nicken, hatte ihr den Spitznamen
Noddy
eingebracht, einen Titel, der selbst außerhalb der Uni seine Kreise gezogen hatte. Tja, und jetzt war sie hier, hatte ein eigenes Büro und gehörte zum festen Mitarbeiterstab der Universität. Wer hätte das jemals vermutet?
    Ella konnte einen Seufzer nicht unterdrücken, als sie an die alten Zeiten dachte. Sie war jetzt siebenunddreißig Jahre alt, knapp ein Drittel ihres Lebens hatte sie im Ausland verbracht. Die Entscheidung der George Washington University, ihr eine Professur anzubieten, war völlig unerwartet gekommen und hatte ihr bisheriges Leben gehörig durcheinandergerüttelt. Mit einem Mal stand sie vor der Entscheidung, so weiterzumachen wie bisher – das hieß, Forschungsaufträge rund um den Erdball anzunehmen, die Ergebnisse in einschlägigen Fachzeitschriften zu veröffentlichen, Vorträge zu halten und sich dabei nie länger als ein halbes Jahr an einem Fleck aufzuhalten – oder die Professorenstelle anzunehmen. Und das bedeutete, sesshaft zu werden. Fast eine Stunde lang hatte sie in der Küche gesessen und nachgedacht, bis sie vom hartnäckigen Miauen ihres Katers Gandalf, der sein fehlendes Frühstück beklagte, geweckt worden war. Danach war alles sehr schnell gegangen. Einige Anrufe später hatte ihr Entschluss festgestanden. Sie würde die Stelle annehmen. Sie würde sich eine Wohnung nehmen, unterrichten, nebenher ein wenig forschen und anfangen, so etwas wie ein geregeltes Leben zu führen. Einen festen Freundeskreis aufzubauen, einen Mann zu finden, der es länger als nur ein paar Monate mit ihr aushielt und vielleicht – ja, auch das war noch im Rahmen des Möglichen – einen zweiten Versuch in Sachen Familiengründung zu starten.
     
    »Dr.Jordan?« Ein roter Kopf mit blonden, stoppeligen Haaren erschien in der geöffneten Tür. Es war Bob Iverson, ihr Assistent. Obwohl seine Familie schon in zweiter Generation in den USA lebte, glaubte sie immer noch, einen norwegischen Akzent bei ihm herauszuhören. Als er sie sah, trat er rasch ein und schloss die Tür hinter sich. Seine Kopfhaut war bedeckt mit winzigen Schweißtropfen.
    »Endlich. Gott sei Dank, dass ich Sie endlich gefunden habe. Ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben«, schnaufte er.
    »Haben Sie etwa vergessen, dass wir seit einigen Stunden ein eigenes Büro besitzen?«, fragte Ella. »Aber trösten Sie sich, mir geht’s genauso. Ich werde auch noch Tage brauchen, um mich an den Gedanken zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher