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Magma

Magma

Titel: Magma
Autoren: Thomas Thiemeyer
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herüberdrang, hatte inzwischen seinen Höhepunkt erreicht. Es klang, als wäre der Hörsaal bis auf den letzten Platz besetzt.
    »Weißt du was?«, sie richtete sich auf und griff nach einem Exemplar ihres Buches, »ich glaube, wir machen einen Fehler, wenn wir hier wie die Lämmer vor der Schlachtbank warten. Was hältst du davon, wenn wir durch diese Tür gehen und uns der Meute da draußen stellen?«
    Er atmete einmal tief durch, dann nickte er. »Du gehst voraus.«
    Ella warf ihm einen schiefen Blick zu, dann griff sie ins Regal, nahm die inzwischen trockene Titelseite der
Washington Post
heraus, faltete sie und steckte sie in die Hemdtasche.
    »In Ordnung.« Sie öffnete die Tür zum Hörsaal. »
Audaces fortuna juvat
«, sagte sie. »Dem Tapferen gehört das Glück.«

4
    D as Bärenhorn, tief in den Schweizer Alpen gelegen, ragte wie eine Klippe in den stürmischen Märzhimmel. Die tief hängenden Wolken zerschellten an seiner Westflanke, wirbelten durcheinander, teilten sich und gaben dabei ihre schwere Regenlast ab. Heftige Schauer peitschten gegen die Felswände und durchweichten jeden Quadratzentimeter Boden, ehe sie in Rinnsalen abzufließen begannen und sich am Fuß des Berges zu schnell fließenden Bächen vereinten. An der Ostseite, dort, wo die Steilwände langsam in die Talsohle übergingen, befand sich eine Höhle. Eine schmale, ungeteerte Straße wand sich von Splügen bis hinauf zu einer ebenen Fläche, an deren Schmalseite sich ein mit einem schweren Eisentor gesicherter Eingang befand. Einige kurz geratene Eichen und Fichten standen zu beiden Seiten und warfen ihre Schatten auf die ohnehin schon unscheinbare Pforte. Dass sich das Tor nicht öffnen ließ, wunderte niemanden, schließlich gab es in dieser Gegend viele Höhlen, die aus Sicherheitsgründen allesamt gesperrt waren. Obendrein fand sich nirgendwo ein Hinweis darauf, was jenseits des eisernen Tores war. Kein Schild, keine Tafel, ja nicht einmal ein Schlüsselloch, durch das man hätte ins Innere schauen können. Der Eingang wirkte, als sei er vor ewigen Zeiten vergessen worden. Doch der Eindruck täuschte.
    In diesen frühen Morgenstunden kam ein Fahrzeug aus dem Tal herauf. Langsam bahnte es sich seinen Weg über die schmale Piste. Wie ein schwarzes Insekt schob sich das allradgetriebene Fahrzeug Meter um Meter den Hang empor.
    In seinem Inneren war die Luft stickig. Ein ovales silbernes Medaillon, ein sogenannter Jad-Vashem-Anhänger, der mit einem rohen Lederriemen am Innenspiegel aufgehängt war, wurde durch die heftigen Schlingerbewegungen gegen die Windschutzscheibe geschlagen. Die Sicht war gleich null, daran änderten auch die Lichtkegel der Scheinwerfer nichts. Der Mann hinter dem Lenkrad wischte sich über die Brille. Missmutig starrte er in den Regen hinaus, während er nervös mit den Fingern trommelte. Das Wasser floss auf breiter Front die Straße herab und hatte den Untergrund in Schlamm verwandelt. Jede unbedachte Lenkbewegung konnte zum sofortigen Ausbrechen des Autos und damit zu einem Sturz in die Tiefe führen. Überdies war die Strecke mit Felsbrocken übersät, die das Fahren zusätzlich erschwerten. Immer wieder musste er ausweichen und darauf hoffen, dem Abgrund nicht zu nahe zu kommen. Offenbar war schon lange niemand mehr hier herauf gekommen, sonst hätte man die Schäden eher bemerkt und sie beseitigt. Hätte auch nur der Hauch einer Möglichkeit bestanden, den Luftweg zu nehmen, hätte er sich dafür entschieden. Doch für einen Hubschraubereinsatz war das Wetter viel zu schlecht. Abgesehen davon, dass kaum Licht durch die tief hängenden Wolken drang, herrschten hier Windstärken, die eine sichere Landung auf dem Felsvorsprung unmöglich machten. Blieb also nur die Fahrt mit dem Auto.
    Der Wind rüttelte und zerrte an der Karosserie, was das Lenken zusätzlich erschwerte. Zu allem Übel drängte die Zeit. Jede Minute zählte. Der Anruf, den der Mann vor einer Stunde von einem seiner Untergebenen übers Handy erhalten hatte, verlangte höchste Eile. Offenbar war irgendetwas Außergewöhnliches vorgefallen, sonst hätte man es nicht gewagt, ihn an seinem freien Tag so früh aus dem Bett zu holen. Vorsichtig trat er stärker aufs Gas. Augenblicklich begann eines der Hinterräder durchzudrehen. Das Fahrzeug drohte auszubrechen und schlingerte kurz Richtung Abgrund. Der Mann nahm das Gas wieder weg. Keine Chance. Es ging einfach nicht schneller. Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als mit zwanzig
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