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Magma

Magma

Titel: Magma
Autoren: Thomas Thiemeyer
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hier vorhandenen Korallenbänke und deren fortschreitende Erosion, hatte er sich vorgenommen, die Semesterferien für das zu nutzen, was er einen
kleinen Bildungsurlaub
zu nennen pflegte. Sein Fachgebiet waren marine Ablagerungen im Alpenraum. Die hier vorhandenen Korallen hätten ihm einen ausgezeichneten Einblick in den Aufbau und die Lebensvielfalt eines längst vergangenen Ökosystems liefern sollen, doch im Moment war davon nicht viel zu erkennen. Die Sichtweite war auf unter zehn Meter herabgesunken und machte eine Orientierung unmöglich. Er öffnete die Lederschatulle, die an seinem Gürtel hing, und nahm seinen Armeekompass heraus. Ein Souvenir aus dem Ersten Weltkrieg, das sein Vater ihm nach der glücklichen Heimkehr von den Schlachtfeldern Europas vermacht hatte. Mondari öffnete das Metallgehäuse, dessen grüne Lackschicht bereits an einigen Stellen abblätterte, und blickte auf die rotweiße Magnetnadel, die unerschütterlich nach Norden wies. Der Professor hätte schwören können, dass die Richtung nicht stimmte, aber wer war er, mit dem alten Erbstück zu hadern? Seufzend schlug er den Weg ein, den die Nadel ihm wies, doch sorgenfrei war er noch lange nicht. Der Kompass konnte ihm zwar sagen, wo Norden war, aber er vermochte ihn nicht vor einem Sturz in eine der unzähligen Spalten und Abbrüche zu bewahren, mit denen die Hochebene durchzogen war. Das Plateau
Altipiano Delle Pale
folgte seinen eigenen Gesetzen. Eines davon lautete, es niemals bei instabiler Wetterlage zu betreten. Doch wie hätte er das ahnen können? Vor zwei Stunden, als Mondari die Hochebene erreicht hatte, hatte alles noch gut ausgesehen, und es waren keine Anzeichen eines Wetterumschwungs zu erkennen gewesen. Zwar hatte man ihn unten, in der Pension Canetti in San Martino, gewarnt, dass ein Tief heranzog, doch er wäre niemals darauf gekommen, dass das Wetter hier dermaßen schnell umschlagen könnte.
    Es mochte eine Viertelstunde seit dem letzten Durchatmen vergangen sein, als er eine kleine Rast einlegte. Die Anstrengung der Wanderung in der dünnen Luft war zu viel für ihn, und er fühlte, wie ihm trotz der klammen Kälte der Schweiß ausbrach. Erneut blickte er auf den Kompass und stutzte. Jetzt wies die Nadel auf einmal in die entgegengesetzte Richtung, die Richtung aus der er gerade gekommen war. Verwirrt blieb er stehen. Es waren noch keine fünf Minuten vergangen, seit er das letzte Mal auf die Anzeige geblickt und sich vergewissert hatte, dass er nicht vom Kurs abgewichen war. Und auf einmal sollte er einen Haken von hundertachtzig Grad geschlagen haben? Das war vollkommen ausgeschlossen, das hätte er doch gemerkt. Was ging hier vor?
    Hilfe suchend blickte er sich um. Wolken und Nebel hatten ihn jetzt komplett eingehüllt. Sie waren so schnell herangefegt, dass er nicht mal mehr die Chance gehabt hatte, die nahe gelegene Rosetta-Berghütte zu erreichen. Er fühlte Panik in sich aufsteigen und tat etwas, was ihm selbst peinlich war, musste es doch wie ein Beweis eigener Schwäche erscheinen. Er hob die Hände an den Mund und rief in den Nebel hinein.
    »Hallo! Ist da jemand?«
    Keine Antwort.
    »Kann mich jemand hören?«
    Stille.
    »Geben Sie mir ein Zeichen, wenn Sie mich hören.«
    Nichts.
    »Helfen Sie mir! Ich habe mich verlaufen!«
    Jetzt war es heraus. Das Eingeständnis der Ratlosigkeit hatte seinen Mund verlassen und flog hinaus in die Welt. Hin- und hergerissen zwischen der Hoffnung und der Furcht, gehört worden zu sein, lauschte er in die weiße Nebelwand. Nichts. Mit einem Mal erinnerte er sich an die Notfallausrüstung, die er sich unten im Tal hatte aufschwatzen lassen. Eine kleine Trillerpfeife war darin. Er nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger und blies hinein. Einmal. Zweimal. Der schrille Klang beleidigte seine Ohren, doch er versuchte es weiter. Ohne Erfolg.
    Er war allein.
    Fluchend machte er auf dem Absatz kehrt und ging in die entgegengesetzte Richtung, dorthin, wo dem Kompass zufolge Norden sein sollte. Doch diesmal ließ er die Nadel nicht aus den Augen. Noch einmal würde er sich nicht ins Bockshorn jagen lassen.
    Er war noch nicht weit gekommen, als der Zeiger anfing, sich mal nach links, dann unvermittelt nach rechts zu drehen, ehe er eine komplette Drehung vollführte. Mondari führte den Kompass so nahe an sein Gesicht, dass seine Nasenspitze beinahe das Glas berührte. Verwundert blickte er auf die Nadel. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund schien sie sich nicht festlegen zu wollen,
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