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Märchenmord

Märchenmord

Titel: Märchenmord
Autoren: Krystyna Kuhn
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plötzlich auf und sprach einfach einen Mann an, der es eilig hatte, an ihm vorbeizukommen. Unglaublich, wie lästig der war! Der Mann trug eine weiß gehäkelte Mütze auf dem Kopf. Sein dunkler Bart verdeckte fast das ganze Gesicht, sodass man sein Alter schlecht schätzen konnte. Wahrscheinlich war er nicht älter als fünfundzwanzig. Unter dem schwarzen Jackett sah ein langes weißes Hemd hervor, das bis zu den Knien reichte. Doch der Junge nahm natürlich keine Rücksicht darauf, dass der Mann seine Ruhe wollte, sondern quatschte einfach auf ihn ein. Pausenlos. Ha! Der Mann hatte Noah offenbar eine Abfuhr erteilt. Jedenfalls zuckte dieser zusammen und hob die Arme, als ob er sich entschuldigen würde. Das hatte er davon, dass er einfach jeden anmachte! Gina verfolgte den Mann mit dem Zoom. Er blieb vor dem Haus gegenüber stehen. Hier verharrte er und richtete den Blick auf das Gebäude. Mann, der wirkte ja wie versteinert. Wie konnte man nur so lange auf ein und denselben Fleck starren? Da mussten einem doch die Augen wehtun. War das irgendeine Wette? Wartete er auf jemanden? Ein seltsamer Typ. Ein Jugendlicher, der die Kopfhörer eines MP3-Players übergestülpt hatte und offenbar außer der Musik nichts wahrnahm, rempelte ihn an. Der Mann reagierte nicht. Er schien nichts um sich herum wahrzunehmen. Er war zur Salzsäure erstarrt. Gina fröstelte und trat vom Fenster zurück. Das Gefühl der Angst, das sie plötzlich überkam, konnte sie sich nicht erklären. Es war, als ziehe sich ihr Körper auf einen Schlag zusammen.
    •

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    I m Licht der Straßenlaternen zogen Wolken wie Karawanen über den dunklen Abendhimmel. Gina fühlte sich erst wieder sicher, nachdem sie in der Wohnung alle Lampen angeschaltet hatte. Dann nahm sie erneut ihren Platz auf dem Fensterbrett ein. Auf der Straße hatte sich nicht viel verändert. Noch immer zerrte die dicke Frau ihren dicken Köter hinter sich her. Diesmal nur in die andere Richtung. Der Schuhputzjunge packte seine Sachen zusammen. Monsieur Saïd, der Gemüsehändler, räumte die letzten Kisten vom Bürgersteig. Der unheimliche Mann aber war verschwunden. Erleichtert atmete Gina auf. Was jetzt? Wollte sie etwa den Abend damit verbringen, aus dem Fenster zu starren? Seit sie in Paris angekommen war, musste sie immerzu an ihren Großvater denken. Es war so seltsam, hier zu sein und ihn nicht in seiner Wohnung in der Rue Beethoven zu besuchen. Aber bevor sie losgefahren waren, hatte sie nach seiner Telefonnummer im Internet gesucht und sie in ihr Handy gespeichert. Sie konnte ihn anrufen. Jetzt sofort. Aber würde er überhaupt zu Hause sein? Vielleicht war er in der Klinik? Oder im Landhaus? Wie würde er reagieren, wenn er sie nach so langer Zeit am Telefon hatte? Wenn er abnahm, konnte sie ja gleich wieder auflegen. Nur einmal seine Stimme hören. Gina rief die Nummer auf. Während das Handy die Verbindung aufbaute, schaute sie zum Fenster hinaus. Der Himmel hatte jetzt den Vorhang der Nacht vollständig zugezogen. Die Bewohner im Haus gegenüber hatten die Fensterläden geschlossen. Nur in der Wohnung im vierten Stock genau gegenüber schien ein schwaches rötliches Licht. Es sah aus, als ginge genau dort hinter den Fenstern die Sonne unter. Erst langsam begriff Gina, dass das Farbenspiel von einer Lampe kam, die rot schimmerte und zahlreiche Teppiche an den Wänden zum Leuchten brachte. Und dann sah sie erneut das Mädchen. Es stand mitten im Raum. Verloren sah sie aus und traurig. Wie hieß die Prinzessin, die tausendundeine Nacht dem König Geschichten erzählte, damit sie nicht sterben musste? Scheherazade? Ja, genau, das war ihr Name. Wie kam sie nur auf diesen Gedanken? War es die Art, wie das Mädchen dastand? Sie hatte etwas an sich, das Gina an ein Gemälde erinnerte. Von wegen Gemälde, es war die perfekte Filmszene. Sie vernahm das Tuten an ihrem Ohr. Die Verbindung war da. Die erste Verbindung zu ihrem Großvater nach acht Jahren. Mann, war sie aufgeregt. Sie stellte sich vor, wie das Telefon bei ihrem Großvater im Flur läutete. Das Mädchen gegenüber hatte nun die Hände erhoben. Sprach sie mit jemandem? Nein, Gina konnte niemanden sehen. Nun trat das Mädchen einige Schritte zurück und stieß gegen den Tisch hinter sich.
    Ginas Herz begann zu klopfen. Da war so ein Gefühl der Beklemmung in ihr. Hatte sie Angst, dass ihr Großvater nicht z u Hause war oder fürchtete sie vielmehr, er könnte da sein ? Das Handy tutete . Gegenüber trat nun aus dem
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