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Märchenmord

Märchenmord

Titel: Märchenmord
Autoren: Krystyna Kuhn
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Dunkel des Zimmers eine Gestalt , ein Mann. Gina stockte der Atem. Es war nicht irgendein Mann , sondern derselbe, mit dem der Schuhputzjunge gesprochen hatte. Der Mann im schwarzen Anzug und der weißen Mütze au f dem Kopf. Genau der, der wie ein einsamer Wächter lange au f das Haus gegenüber gestarrt hatte . Dort drüben ging etwas Seltsames vor sich. Gina spürte es nu n deutlich. Es war dasselbe Gefühl, wie wenn sich ein Gewitte r ankündigt. Die Wolken sich zusammenballen. Und dann geht e s los. Von einem Moment zum anderen beginnt es zu toben . Oder war es wieder einmal ihre Fantasie, die mit ihr durchging ? Ihr Naturell, immer und überall Böses zu vermuten ? Das Handy ans Ohr gepresst, legte Gina das Gesicht an da s Fenster, um besser sehen zu können . Grand-père war nicht zu Hause . Und die beiden dort drüben sprachen miteinander . Also war alles ganz normal, oder nicht ? Plötzlich packte der Mann das Mädchen am Arm. Sie versucht e sich loszureißen. Ihr schmaler Körper wand sich verzweifelt . Entsetzt ließ Gina das Handy sinken . Dann ließ er sie los. Das Mädchen blieb ruhig stehen. Also doc h nur ein normaler Familienstreit. Die Zeit, die noch vor wenige n Sekunden immer schneller geworden war, kam wieder zur Ruhe. Außerdem ging sie das Ganze nichts an. Sie hatte ihre eigenen Probleme. Sie hob das Handy erneut ans Ohr und… ein e tiefe, vertraute Stimme sagte: »Allô? « Grand-père . Er war es !
    Sie musste etwas sagen ! Ihr Blick richtete sich auf das Fenster gegenüber, als ob sie dor t Hilfe fände . Sie hätte das nicht tun sollen . Manche Dinge muss man nicht sehen . »Allô?«, hörte sie wieder ihren Großvater, doch sie konnte nich t antworten . Warum starrte der Mann das Mädchen so wütend an ? Warum hob er die Hand ? Und jetzt…das Mädchen wich einige Schritte zurück. Bitten d legte sie die Hand auf ihr Herz und schüttelte langsam den Kopf , bis die Bewegung immer schneller, immer verzweifelter wurde . »Wer spricht? « »Ich bin’s!«, antwortete sie in dem Moment, als in der Hand de s Mannes etwas aufblitzte. Vor Schreck ließ sie das Handy fallen . Es dauerte einen Augenblick, bis Gina begriff, was geschehe n war . Schrie das Mädchen ? Nein, es war sie selbst, die laut schrie . Unten auf der Straße heulte ein Motor auf, als der Mann ausholte und zustieß. Dann schwankte das Mädchen kurz, bevor e s nach hinten kippte. Für einen Moment schien sie in der Luft z u schweben, als ob eine unsichtbare Hand sie aufhalten wollte . Doch dann stürzte sie innerhalb von einer Sekunde zu Boden . Sie fiel einfach mit gestrecktem Körper nach hinten . »Steh wieder auf«, rief Gina verzweifelt. »Steh auf. « Sie presste das Gesicht ans Fenster . Doch das Mädchen rührte sich nicht, während Gina das Gefüh l hatte, in einen Schacht zu fallen. Ein Gefühl, das ziemlich lang e dauerte. Stunden. Nein, das war keine Zeit, die man messe n konnte. Das war eine Unzeit. Ein Stück von der Ewigkeit, ei n Stück Unendlichkeit der Angst .
    Sah so der Tod aus? So still und unbeweglich? So unwirklich, als würde man einen schlechten Film im Fernsehen schauen? Dann aber riss sie sich zusammen. Sie musste etwas tun. Aber was? Ihr fiel nichts ein. Außer… eines! Filmen! Ihre Hand hob das Handy vom Boden auf. Sie hörte ihren Großvater ihren Namen sagen und brach das Gespräch ab. Mit zitternder Hand wählte sie die Videofunktion und richtete das Zoom auf die Wohnung gegenüber. Zunächst war nicht viel zu erkennen, bis der Mann in ihrem Blickfeld erschien. Er starrte genau in ihre Richtung, schien sie mit seinem Blick zu durchbohren. Sie spürte, wie eine Gänsehaut ihren Körper überzog, und in diesem Moment hob er die Hand, und trotz der Dämmerung dieses Pariser Abends erkannte Gina, was er nach oben hielt. Etwas, das aussah wie ein Messer. Gina wurde abwechselnd heiß und kalt. Stopp! Plötzlich begriff sie. Der Mann konnte sie sehen. Der Kronleuchter strahlte sie an wie auf einer Bühne. Mach das Licht aus! Aus! Aus! Aus! Gina beobachtete sich selbst, wie sie schwankend zu Boden glitt und auf den Knien zur Tür kroch. Der Fußboden war eiskalt, als sei er mitten im Juli mit einer Eisschicht überzogen. Dann hatte sie das andere Ende des Zimmers erreicht. Zitternd tastete ihre Hand die Wand hoch zum Schalter. Erst als das Licht erlosch, fühlte sie sich für einen kurzen Moment beruhigt. An die Wand gelehnt, dachte sie: Ich will nicht alleine sein in dieser fremden Wohnung, dieser
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