Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Märchenmord

Märchenmord

Titel: Märchenmord
Autoren: Krystyna Kuhn
Vom Netzwerk:
hervorlocken. Es blieb stumm. Fumer!, war das Einzige, was ihr einfiel. Panisch stieß Gina hervor: »Fumer!« Nein! Falsch! Fumer hieß rauchen. Verzweifelt hob sie die Hand und deutete auf das Fenster gegenüber, hinter dem nun der rote Schein des Feuers grell aufleuchtete. Endlich verstand der junge Mann, rannte auf die Straße und begann, laut um Hilfe zu schreien. Wie gelähmt beobachtete Gina, wie er schließlich auf alle Klingeln an der Haustür gegenüber drückte, ohne loszulassen, während seine Freundin hektisch eine Nummer auf ihrem Handy tippte. Im ersten Stock öffnete sich ein Fenster. Der Kopf eines alten Mannes erschien. Verwirrt fragte er, was los sei, und als er Au feu! hörte, verschwanden seine grauen Haare sofort. Gina aber stand erstarrt im Regen auf der Straße und konnte den Blick nicht von dem Fenster im vierten Stock lösen, wo jetzt dunkler Rauch unter dem Fensterrahmen hervorquoll. Alle Bewegungen wurden plötzlich seltsam langsam. Wie in einem Film. Alles verlief wie in Zeitlupe. Genau die Szene, in der Leute schreiend aus dem Haus zu schweben scheinen, bevor es laut krachend in sich zusammenfällt. Aus diesen Gedanken riss sie eine Hand auf ihrer Schulter.
    »Attention!«
    Der Rauch war jetzt so stark, dass sie zu husten begann.
    »Attention!«
    Jemand zog sie zurück, obwohl sie Widerstand leistete. Aber dieser jemand ließ nicht nach. Zornig drehte Gina sich um. Vor ihr stand dieser Junge, wieder fiel ihr sein Name nicht ein. Irgendetwas aus der Bibel. Moses. Abraham, Isaak, Goliath. Nein . Noah . Er sagte etwas, doch sie verstand ihn nicht. Er sprach so verdammt schnell und der schrille Ton des Martinshorns übertönt e seine Worte . Gina hob die Arme und schrie ihn an: »Je ne …«, verdammt , was hieß ›verstehen‹ auf Französisch? Das wenigstens musst e sie doch wissen. Französisch war ihre Muttersprache . Noah zog sie weiter zurück, nahm keine Rücksicht darauf, das s sie sich sträubte, und deutete immer wieder auf das Feuer. Gin a sah, wie die ersten Feuerwehrleute in das Haus liefen, den langen Schlauch hinter sich herziehend . Der Rauch biss in ihrer Lunge, sodass sie erneut husten musste . Es stach in ihrer Nase und ihre Augen tränten. Ein schrecklic h rotes Licht flammte auf. Sie wehrte sich nicht, als Noah sie endgültig wegzog. Ihr Hals schmerzte so, dass sie sowieso keine n Laut des Protests von sich geben konnte . Immer mehr Feuerwehrleute betraten das Haus. Ein Hund bellt e unaufhörlich. Das muss der dicke Hund der dicken Frau sein , dachte sie und dann, doch völlig egal, welcher Hund . Dann kamen die ersten Hausbewohner herausgerannt. Die Frau , die das Geschirr in der Küche gespült hatte, trug ein kleine s Kind im gelben Pyjama auf dem Arm, das sich die Augen rieb . Ein müder Teddy hing in seiner Hand . Der Mann mit den Boxershorts trug jetzt Jeans und hielt schützend den Arm um eine schwangere Frau im Nachthemd, die lau t schluchzte . Was war mit dem Mädchen im blauen Kleid ? War sie auch dabei ? Nein, Gina konnte sie nirgends sehen . Wie auch, wenn sie tot war . Der alte Mann in Hausschuhen und Bademantel kam zur Haustür heraus, stolperte über den Bordstein und fiel zu Boden. Ei n Feuerwehrmann half ihm, wieder aufzustehen . Erst in diesem Moment begriff Gina, dass niemand von de m Mädchen wissen konnte, wenn es noch dort oben auf dem Boden lag, mitten im Feuer . »Polizei«, hörte sie sich stammeln und dann: »Gendarme. Gendarmerie. «
    Gab es dieses Wort überhaupt oder klang es nur französisch ? Noah nickte und deutete auf den Polizeiwagen, der jetzt heulend um die Ecke bog, gefolgt von einem, nein, zwei Krankenwagen . Er verstand nichts. Gar nichts. Er war dumm. Sie hatte es geahnt. Ein Schuhputzjunge, mehr nicht . »Ein Mädchen«, versuchte sie zu schreien, doch der Rauch erstickte ihre Stimme. »Dort oben«, krächzte sie. »Kapierst d u nicht? Help! Girl! Jeune fille. « Noch immer starrte er sie verständnislos an . Was denn ? Wollte er es noch auf Lateinisch hören ? Mit Arabisch konnte sie leider nicht dienen . Ginas Kopf war leer wie bei den Schulaufgaben, wenn Madam e Poulet auf ihren Stöckelschuhen hereinkam und verkündete : »Examen. « Was hieß Tod ? Was Mord ? Sie spürte, wie sie bebte. Ihr Puls hämmerte so wild in ihre m Hals, dass sie kaum Luft bekam, und dazu dieser Rauch . Aber sie musste sich erinnern. Sie musste Französisch sprechen . Sie konnte es. Sie wusste, dass sie es konnte. Konzentriere dich , Gina! Denk an
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher