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Macht der Toten

Macht der Toten

Titel: Macht der Toten
Autoren: Marcel Feige
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er sich erhofft? Nun, eine Antwort auf die Frage, welches Geheimnis der Junge verbarg. Und darauf, warum seine Großmutter hatte sterben müssen.
    Doch der Junge hatte, nachdem er in der Gerichtsmedizin gewesen war und sich im Anschluss mit seinem Kumpel in einer der unzähligen In-Kneipen Friedrichshains getroffen hatte, nur seine Freundin besucht. Ein tröstender Abschluss des Tages. Kahlscheuer dagegen war sich, je mehr die eisige Kälte in seine arthritischen Gelenke gekrochen war, wie ein Voyeur vorgekommen, ein mieser Gauner, der Böses im Schilde führte. Aber das war er nicht. Er war nur ein einsamer Mann auf der Suche nach… Ja, wonach eigentlich? Nach Erleuchtung? Er hätte gelacht, wären die Schmerzen in seinen gichtigen Knochen nicht so stark gewesen. Vor drei Dutzend Jahren, als er vor dem Papst niedergekniet war und seine Weihe empfangen hatte, da hatte er geglaubt, er sei erleuchtet worden. Doch seitdem war viel Dunkelheit aufgezogen. Eine Finsternis, die sich in den letzten Tagen noch verstärkt hatte.
    »Was kann ich für Sie tun, mein Lieber?«, fragte er Giacomoto.
    »Aber Herr Pastor, die Messe…« Der alte Mann sah ihn an, als habe Kahlscheuer den Verstand verloren. »Es ist Zeit für den Gottesdienst.«
    Kahlscheuer verfluchte sich. Es war Sonntagmorgen. Zeit für die Morgenandacht. Er hatte sie vergessen. Aber war das ein Grund zur Sorge? Er bezweifelte, dass bei diesem Sturm viele Menschen den Weg zur Kirche fanden. Schon an normalen Tagen waren die Holzbänke vor dem Altar nur spärlich besetzt. Selbst beim monatlichen Gottesdienst im Obdachlosenasyl am Bahnhof Zoo war üblicherweise mehr los. Wenn auch nur, weil es im Anschluss an die Messe eine warme Mahlzeit gab.
    Er spähte durch die wild wirbelnden Schneeflocken zur Eingangspforte des Gotteshauses. Der kleine Vorplatz lag verlassen. Offenbar war Giacomoto der Einzige, der den beschwerlichen Weg zum Frühgottesdienst auf sich genommen hatte, das letzte verbliebene Schäfchen der St.-Clara-Gemeinde. Das Ausbleiben der Menschen zu seinen Gottesdiensten war ein Zeichen für seinen Misserfolg, für sein Versagen als Hirte Gottes.
    »Geht es Ihnen wirklich gut?«, fragte Giacomoto besorgt.
    »Ja, natürlich.« Es klang heftiger als beabsichtigt.
    Der alte Mann tat erschrocken einen Schritt zurück. Er rümpfte die gerötete Nase, die zwischen den Fellbesätzen hervorlugte. »Sind Sie sich sicher?«, hakte er dann nach. »Ich habe den Eindruck…«
    »Verflucht, ja doch, es geht mir gut!«
    Diese plötzliche zornige Eruption wirkte Wunder. Kahlscheuer spürte den Schmerz in seinen Gelenken nicht mehr und bekam die Schlüssel zu fassen. Erleichtert riss er den Arm aus der Tasche. Fast hätte er den Schlüsselbund wie eine Trophäe in die Höhe gereckt. Im letzten Moment besann er sich, öffnete die Tür und eilte ins Innere des Pfarrhauses. Auch wenn es kein Zuhause war, in diesem Augenblick war er dankbar für die Wärme, mit der das Gebäude ihn empfing.
    »Pastor Kahlscheuer!«, rief Giacomoto ihm hinterher.
    Doch da knallte Kahlscheuer ihm bereits die Tür vor der Nase zu. Schnaufend lehnte er sich an die vertäfelte Wand im Flur. Es war ein angenehmes Gefühl, für einen Augenblick keine Schmerzen zu spüren. Und ja, es war ebenso gut gewesen, seiner Wut freien Lauf zu lassen.
    Die Luft roch muffig und abgestanden, doch das war er gewohnt. Das Gebäude war alt, stammte aus den 50er-Jahren. Aber es war warm. Und still. Die Haushälterin würde erst am Montagmorgen wieder ihre Aufwartung machen.
    Er legte die Jacke ab und hängte sie an den Kleiderständer. In der nächsten Sekunde fand er sich auf dem Boden wieder. Die Krämpfe kehrten mit einer Wucht in seinen Leib zurück, dass die Extremitäten jeden Dienst einstellten. Er wälzte sich im Schmutz seiner Schuhe auf den Fliesen. Das war schlimm genug. Doch noch viel erniedrigender war, dass er die Gewalt über seine Blase verlor und der Urin sich in seine Unterhosen ergoss.
    So schnell die Attacke ihn überwältigt hatte, so schnell war sie vorbei. Er war froh, dass der Überfall hier drinnen passiert war, nicht draußen im Beisein von Giacomoto. Aber eigentlich war es ihm egal. Auch so rannen ihm Tränen der Scham über die Wangen, während er seinen geschundenen Körper aufrichtete.
    Mit steifen Knochen schleppte er sich in die erste Etage, wo sich seine Wohnung befand. Er wankte ins Bad, entkleidete sich, stellte sich unter die Dusche und ließ das heiße Wasser über seinen Körper
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