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Macht der Toten

Macht der Toten

Titel: Macht der Toten
Autoren: Marcel Feige
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mit dem festen Griff seiner Hand Mund und Nase verschloss und dabei den Atem raubte.
    »Und?«, fuhr er sie ungeduldig an. »Was ist? Werden Sie schreien?«
    Ihre Pupillen gewöhnten sich an das Licht, und sie erkannte den Geistlichen, vor dem Miss Barkley sie gewarnt hatte.
    Seine Kiefer mahlten unablässig auf einem Kaugummi, sein Blick war starr und kühl auf sie gerichtet. Sie verstand, es war ihm ernst mit seiner Drohung. Deshalb schüttelte sie den Kopf, so schnell, wie es seine starke Umklammerung zuließ.
    Seine Finger gaben sie frei. Sofort schnappte sie nach Luft. Sie hustete. Der Mann legte seinen Zeigefinger an die Lippen. Obwohl es ihr schwerfiel, zwang sie ihre gebeutelte Lunge zur Ruhe.
    »Geht doch«, sagte der Mann zufrieden. »Angela-Marie wäre stolz auf Sie.«
    »Wagen Sie es nicht noch einmal, den Namen meiner Tante in den Mund zu nehmen.«
    »Andernfalls?« Er zog eine Augenbraue hoch und lächelte. Allein für dieses Grinsen hätte sie ihm gern das Gesicht zerkratzt. Für den Mord an Paul und ihrer Tante wollte sie ihn am liebsten umbringen. Doch das eine war so unmöglich wie das andere. Er hatte ihr die Hände auf den Rücken gebunden. Auch ihre Beine waren gefesselt. Sie war zur Regungslosigkeit verdammt.
    Diese hilflose Situation erinnerte sie an ihr Erwachen in der Seitenstraße in London. Es gab nur einen kleinen, aber nicht ganz unwesentlichen Unterschied – ob der von Vorteil war, wollte sie nicht beschwören: Diesmal konnte sie sich an ihr gesamtes Leben erinnern. Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Da war ihre Kindheit, Angela-Marie, der Bobtail Buck, Paul, Bart, das Hotel The North Side, Miss Barkley, Elmie, Eadfrith, sogar der unfähige Schalterbeamte in der Royal Bank of Scotland kam ihr in den Sinn.
    Sie entsann sich auch an jenen Moment, als dieser Priester in der Gasse aufgetaucht war und ihr die Betäubungsspritze in die Hüfte gerammt hatte.
    Nun lag sie auf einer fauligen Matratze, die nur notdürftig von einem verrosteten Bettgestell gehalten wurde. Ansonsten befand sich nichts weiter in der kleinen fensterlosen Kammer, die von einer einzelnen Glühbirne erhellt wurde. Sie war in eine Fassung eingeschraubt, die an einigen Drähten von der rissigen Decke baumelte. Die Wände waren mit Dreck besudelt, stellenweise blätterte die Tapete ab und enthüllte blanken, bleichen Putz. Die Tür war eine schwere gusseiserne Pforte, wie es sie für gewöhnlich nur in einem Bunker gab. Vermutlich waren sie bereits in Deutschland angelangt. Irgendwo in Berlin.
    Die Dosis des Narkotikums musste beträchtlich gewesen sein, wenn sie die ganze Zeit der Überfahrt geschlafen hatte. Wie er es geschafft hatte, sie an den britischen Grenzposten vorbei außer Landes zu schleusen, war ihr zwar ein Rätsel, denn seit dem 11. September 2001 waren vor allem in Großbritannien die Sicherheitsvorkehrungen exorbitant. Aber er war ein heimtückischer Geistlicher, der ganz bestimmt Mittel und Wege kannte, sich vor allzu aufdringlichen Blicken zu schützen.
    »Schön, dass Sie endlich wach sind«, sagte er. Sein Gesicht war alt und von Falten durchsetzt, die Augen dunkel umrändert, darüber tauschte auch die Bräune seiner Haut nicht hinweg. Oder die Lässigkeit, mit der er seinen Kaugummi bearbeitete. Da war noch etwas anderes, was sie in seiner Miene ausmachte: unendliche Müdigkeit. Er versuchte sie zu überspielen, indem er freundlich sagte: »Es wäre schade um eine hübsche Frau wie Sie.«
    Seine Hand berührte ihre Wange, eine fast zärtliche Berührung. Sie bekam eine Gänsehaut. »Seit wann interessieren sich Priester für hübsche Frauen?«
    Er setzte ein nachsichtiges Lächeln auf. »Sie haben sehr viel mit Ihrer Tante gemein. Sie sind ein Sturkopf.«
    »Und Sie sind ein Mörder!«
    »Ein Mörder?« Jetzt verzog sich sein Gesicht zu einer unschuldigen Maske. Nur das unentwegte Kaugummikauen verriet, unter welcher Anspannung er tatsächlich stand.
    »Sie haben meine Tante auf dem Gewissen.«
    »Ihre Tante war selbst schuld«, erwiderte er. »Sie war so stur. Genau wie Sie!«
    Beatrice schnaubte.
    Der Geistliche beachtete es nicht. »Was ist das für ein Leben, ständig auf der Flucht, immer in Sorge, dass man Ihnen auf die Spur kommt?« Seine Stimme bekam einen spöttischen Klang. »Nein, Gott bewahre, das darf nicht geschehen.« Er neigte seinen Kopf, kniff die Augenlider zu schmalen Schlitzen zusammen, aus denen er Beatrice anfunkelte.
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