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Macht der Toten

Macht der Toten

Titel: Macht der Toten
Autoren: Marcel Feige
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bedeuten wollte.
    »Warum bist du nicht zu mir ins Zimmer gekommen?« Sie lächelte. »Denkst du, ich habe nicht gehört, wie du hier drüben Runden gelaufen bist wie ein Tiger im Käfig?«
    »Ich dachte… ich meine… du schläfst, und ich wollte dich nicht wecken.«
    Sie ging nicht darauf ein. Wieder verfielen sie in ein Schweigen. Aber es war nicht unangenehm wie vorhin im Wohnzimmer. Im Gegenteil.
    Rabea sprang aufs Sofa, erklomm die Decke, die über ihre Körper ausgebreitet lag, schärfte ihre Krallen an dem Stoff. Irgendwann rollte sie sich zu einem Haarbüschel zusammen und schlief ein. Es war beinahe wie früher. Angenehm und vertraut.
    »Weißt du«, begann Chris, »ich erkenn dich nicht mehr wieder.« Es lag kein Vorwurf in ihrer Stimme, nur Traurigkeit.
    Er hätte lachen können und gleichzeitig heulen. Er selbst erkannte sich und sein Leben nicht mehr wieder. Aber das entschuldigte nicht sein Verhalten ihr gegenüber.
    Vielleicht war jetzt der Zeitpunkt gekommen, um zu erzählen. Von den Visionen. Seinen Fähigkeiten. Seiner Großmutter. Michael. Ritz. Vielleicht auch von Anita Berber. Hanussen. Der kleinen Lisa. Und seinem eigenen Kind. Denn es ging immer nur um die Kinder.
    Chris schien zu spüren, dass ihm etwas auf der Zunge lag. »Willst du mir nicht erzählen, was los ist?«
    »Das würde ich gerne, glaub mir, aber…« Er zögerte. »Aber das ist nicht so leicht.«
    »Versuch es einfach.«
    »Ich kann nicht«, sagte er, und das war nicht gelogen. Er konnte nicht erzählen, nicht in diesem Augenblick, wo er in ihrem Arm lag, ihre Wärme spürte, die Nähe und Vertrautheit, die er so vermisste. Wenn er jetzt zu erzählen begann, von allem, was ihm auf dem Herzen lag, würde das diesen sagenhaften Moment zerstören. Er wollte ihn einfach nur genießen. Deshalb sagte er: »Nicht jetzt.« Hastig fügte er hinzu: »Bitte.«
    »Wann denn dann?«
    »Später.«
    Sie verzog das Gesicht, erhob sich mit einem Ruck, und der Moment zerfloss wie Schweiß auf klammer Haut. Sie wandte ihm den Rücken zu, als sie sagte: »Dann komm wieder, wenn du es kannst.«
     
     
    Berlin
     
    Schleppenden Schrittes kämpfte Jakob Kahlscheuer sich durch das beißende Schneetreiben heim. Im Grunde war die Pfarrei nur eine Obhut, die ihm die Kirchengemeinde seit Jahren stellte. Aber war es deshalb seine Heimat?
    Während er sich diese Frage nicht zum ersten Mal stellte, bog er in die Zufahrt zu dem kleinen Klinkerbau, der sich im Schatten der gründerzeitlichen Altbauten der Nachbarschaft duckte. Es hatte den Anschein, als beugte sich das Pfarramt furchtsam vor dem tobenden Unwetter.
    Es war sein Domizil, das ihm Nachtruhe gewährte. Vergleichbar mit dem Asyl des Obdachlosenhilfevereins am Bahnhof Zoo, das er einmal im Monat aufsuchte, um einen Gottesdienst für die armen Schlucker Berlins auszurichten. Vielleicht war das der richtige Ausdruck für das Pfarrhaus: ein Domizil. Nicht mehr. Nicht weniger.
    Kahlscheuer griff nach dem Schlüsselbund in seiner Jackentasche. Mit einem schmerzhaften Ziehen verweigerten seine Finger den Befehl. Er presste die Zähne aufeinander und verdoppelte die Anstrengung. Obwohl ihm lausig kalt war, brach ihm der Schweiß aus. Er bot alle Kräfte auf, die in seinem greisen Körper steckten. Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Doch die Schlüssel bekam er nicht zu fassen.
    Ein Mann tauchte wie aus dem Nichts neben ihm auf. Er trug einen dicken Wintermantel mit Fellbesatz, hinter dem ein Großteil seines Gesichtes versteckt war. Die weinrote Baskenmütze allerdings gab ihn als Marco Giacomoto zu erkennen, einen Portugiesen, der seit mehr als 30 Jahren in Berlin lebte, ein treues Mitglied der St.-Clara-Kirchengemeinde.
    »Pastor Kahlscheuer«, krächzte Giacomoto, der im vergangenen Jahr den Lungenkrebs besiegt hatte, und kam noch näher heran. Kahlscheuer konnte seine heisere Stimme kaum verstehen. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
    »Natürlich«, antwortete Kahlscheuer ebenso laut. Er wollte sich den Schnee aus dem Gesicht wischen, bekam aber nicht einmal mehr die Hände aus der Jackentasche. Seine Arme waren steif, hingen von seinem Körper wie nutzloser Ballast. Nichts ist in Ordnung.
    Er war die letzten paar Stunden durch die Nacht geirrt, immer seinem Ziel hinterher bis zu einer Adresse am Treptower Park. Dort hatte Kahlscheuer gestanden und gewartet, bis Schnee wie Nebel über die Stadt gezogen war. Mit dem Sturm war die Vernunft zurückgekehrt. Was hatte er hier zu suchen? Was hatte
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