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Macht der Toten

Macht der Toten

Titel: Macht der Toten
Autoren: Marcel Feige
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nichts, was er sich sehnlicher wünschte. Doch stattdessen: Ich bin schwanger.
    Er schauderte, als habe der Jahrhundertwinter einen Weg in das Zimmer gefunden. Scheiß auf die Meteorologen, hatte Ritz gesagt, der alte Künstler, der im Park von »Bonnies Ranch« gehockt hatte, während die Schneeflocken ihn und seine dicke Daunenjacke wie ein Leichentuch bedeckt hatten. Wir wissen es besser. Das ist kein Winter. Das ist etwas, das… viel schlimmer ist. Hatte er das tatsächlich gesagt?
    Der Heizkörper unter dem Fensterbrett gab ein behäbiges Gluckern von sich. Die Wärme, die dem gerippten Stahlblech entströmte, heizte das Wohnzimmer auf, umgarnte Philip. Er gab ihrem verführerischen Charme nach und die Kälte fiel von ihm ab.
    Chris im Sessel gegenüber sagte keinen Ton, er vernahm nur ihr vertrautes gleichmäßiges Atmen. Die Montagnacht kam ihm in den Sinn, als seine Freundin in der kleinen Kreuzberger Wohnung in seinen Armen gelegen hatte, ihre nackte verschwitzte Haut an seinen Körper gepresst. Während sie einschlief, hatte er glücklich ihren Atemzügen gelauscht.
    Die Ereignisse, die seitdem über ihn hereingebrochen waren, kamen ihm mehr denn je unwirklich vor. Vielleicht war alles nur ein Albtraum gewesen, ein kurzer wirrer Tagtraum, wie er einen manchmal aus heiterem Himmel überfiel. Wenige Minuten später erwachte man mit einem Blinzeln, und die Welt war wie zuvor. Warm, gemütlich und vor allem sicher.
    Philip saß in der Wohnung seiner Freundin, so wie er es die vielen Monate zuvor immer wieder getan hatte. Sie würden sich in den Armen halten. Musik hören. Einen Joint rauchen. Herumalbern. Vielleicht eine Pille einschmeißen. Irgendwann miteinander schlafen, ohne einen Gedanken an den Winter da draußen zu vergeuden, an Schwangerschaften und Kinder oder gar den Tod. Das lag alles so weit weg. Sie waren doch noch jung.
    Er schaute zu Chris. Die Tränen auf ihren Wangen waren Realität. So sehr er es sich auch wünschte, seine Welt war – anders als in seinem Wunschtraum eben – nicht mehr warm, nicht gemütlich. Und am allerwenigsten sicher. Wieder kroch eine Gänsehaut über seinen Körper.
    Er hätte Chris jetzt gerne umarmt, auch weil er ihr Trost spenden wollte, aber noch mehr, um sich selbst zu vergewissern, nicht allein zu sein. Er wollte zur Ruhe kommen, Kraft tanken, nur ein bisschen. Doch er war unsicher, ob sie seine Nähe zulassen würde. Das wäre schön, aber ich glaube nicht, dass das noch geht. Er wusste nicht einmal, ob er sie berühren konnte, ohne erneut von einer schlimmen Vision attackiert zu werden. Zu sehen, wie sie starb, das hätte er nicht ertragen können.
    Also blieb er auf seinem Platz. Er hockte auf dem schmalen Couchrand, den Rabea ihm ließ. Die Katze machte keinerlei Anstalten zu verschwinden. Auf einmal war das Gefühl übermächtig, dass er jeden Augenblick von der Sofakante auf den Boden hinabrutschen würde, wo das Parkett sich öffnen und ihn wie in einem bösen Trip verschlingen würde.
    Die Stille war unerträglich. Nicht einmal Rabea schnurrte mehr. Philip sagte: »Bist du dir…?«
    »Was?«, fiel ihm Chris sofort ins Wort. Mit einer harschen Bewegung strich sie sich eine ihrer braunen Haarsträhnen hinters Ohr. »Was willst du fragen?«
    Philip biss sich auf die Zunge. Er war so ein Narr. »Ich meine…« Er räusperte sich. »Also, ich wollte wissen, ob du dir sicher bist, dass du schwanger bist?«
    Chris lachte auf. Der Ton, der dabei über ihre Lippen kam, klang wie ein heiseres Schluchzen. Eine weitere Träne rann ihre Wange hinab, ohne dass sie sich die Mühe machte, sie mit dem Taschentuch abzutupfen. Gerne hätte er ihr die salzige Perle weggewischt. Doch in ihren blauen Augen lag jener Blick, den er normalerweise nicht leiden konnte. Jetzt hätte er alles dafür gegeben, ihn auch in Zukunft ertragen zu dürfen. Denn es wäre ein Zeichen dafür gewesen, dass sie nach wie vor zusammengehörten.
    »Nein«, sagte Chris und ließ den Kopf hängen. »Das ist nicht das, was du mich fragen wolltest, oder?«
    Er hielt die Luft an. Sie hatte recht. Abermals ärgerte er sich über seine eigene Dummheit.
    »Du wolltest wissen, ob ich sicher bin, dass das Kind von dir ist?« Sie ließ ihm keine Zeit zu antworten. »Du bist dir bewusst, was du mir damit unterstellst?«
    »So war das nicht gemeint.«
    »Wie denn dann?«
    Er öffnete den Mund. Dann schloss er ihn wieder und schwieg. Die Heizung blubberte vor sich hin, ein verhaltenes Glucksen, als machte sie
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