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Macht der Toten

Macht der Toten

Titel: Macht der Toten
Autoren: Marcel Feige
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der Dunkelheit herangetapst, schmiegte sich schnurrend an seine Beine. Sie hatte ihm das Fellzupfen von vorhin bereits verziehen.
    Er wartete einige Sekunden, bis sich seine Augen an die Dunkelheit im Raum gewöhnten. Durch das Fenster fiel nur wenig Licht herein. Die Berliner Nacht war von einem teigigen Weiß verschluckt. Das Schneegestöber hatte noch immer nicht seinen Höhepunkt erreicht.
    Leise schlich er zum Kühlschrank, entnahm ihm einen Apfelsaft und trank direkt aus der Flasche. Ihm war, als spülte er dabei auch den schalen Geschmack seines Traumes hinunter. Für eine Weile stand er nur so da, starrte ohne einen Gedanken in das Zwielicht der Küche. Beruhigt stellte er den Saft schließlich zurück in den Kühlschrank und wischte sich über die Stirn. Sie war noch immer klitschnass.
    Aus dem Wohnzimmer stahl sich das Gluckern der Heizung, seinem unterdrückten Schrei nicht unähnlich. Sofort kehrte die Erinnerung an den Traum zurück. Was war das für eine Welt, die sich immer wieder, in immer kürzeren Abständen, in seinen Schlaf schlich? Und wer war die Frau, die sich dabei stets an seiner Seite befand? Noch mehr Fragen, auf die er keine Antworten fand.
    Vielleicht war der Traum nur die Summe der Ereignisse, mit denen er seit Tagen konfrontiert wurde. Hieß es nicht, das Unterbewusstsein verarbeite Erlebnisse in Träumen? Ja, so musste es sein. Er ahnte, dass er sich damit selbst betrog. Aber es war ein gutes Gefühl, wenigstens irgendetwas erklären zu können.
    Auf dem Weg zurück zum Sofa blieb er stehen. Die Tür zu Chris’ Schlafzimmer war nur angelehnt. Ob sie schlief? Unvermittelt drängte es ihn, noch einmal mit ihr zu reden. Ihr endlich alles zu erzählen. Und ihr zu sagen, dass er ihr alle Zeit dieser Welt einräumte. Ihr und dem Baby, das in ihr wuchs. Seinem Baby.
    Er trat an die Tür heran und lauschte in das Zimmer. Kein behäbiges Knarzen der Matratze, nicht einmal ein Rascheln der Bettdecke, nichts, was darauf hindeutete, dass sie sich vielleicht schlaflos herumwälzte. Er wollte sie nicht wecken. Deshalb kehrte er zurück zur Couch, legte sich unter die Decke, zog sie bis ans Kinn und schloss die Augen.
    Er gähnte, doch er konnte nicht wieder einschlafen. Da war dieser Traum, den er fürchtete. Und da waren Gedanken an Chris, die in seinem Kopf kreisten. Er legte sich noch einmal seine Worte zurecht, mit denen er sie am Morgen begrüßen würde. Dann rollte er sich auf die Seite. Bis zum Morgen würde er einen Großteil seiner Argumente vergessen haben. Er wälzte sich auf dem Sofa herum. Das Gefühl, jetzt mit ihr reden zu wollen, wurde übermächtig.
    Er stand erneut auf, durchquerte den Raum. Die Dielen knarrten unter seinen Füßen. Erst kurz vor ihrer Schlafzimmertür blieb er stehen. Jetzt kam er sich unglaublich dämlich vor. Es war doch alles gesagt. Gib mir einfach etwas Zeit, okay? Er machte die Vergewaltigung nicht besser, wenn er sie mitten in der Nacht überfiel, ihr erklärte, dass er ihrem Wunsch nachkommen wolle, weil er sie liebte, weil er sie brauchte. Die Vernunft sagte ihm, dass er sie jetzt nicht bedrängen durfte. Eine Stimme wisperte höhnisch in sein Ohr: Vergiss die Vernunft! Alles, was dir derzeit passiert, übersteigt den Verstand.
    Schweigend horchte er in die Nacht, während Rabea sich schnurrend an ihn drückte. Er machte kehrt und kroch erneut unter die Decke. Seine Augen fielen ihm zu. Er wehrte sich gegen die Müdigkeit. Aber er hatte die letzten Tage zu wenig geschlafen, als dass er irgendetwas gegen die starke Hand des Schlafes ausrichten konnte. Er dachte noch: Schlaf nicht ein! Da war er bereits eingedämmert.
    Als er erwachte, lag Chris neben ihm. Zuerst glaubte er an einem Traum, einen angenehmeren diesmal. Aber dann spürte er ihre Hand, die weich und warm auf seiner Wange lag und die Haut streichelte. Reflexartig zuckte er zurück.
    Chris schaute ihn befremdet an. »Was hast du?«
    Er hielt in der Bewegung inne. Chris hatte ihn berührt, ohne dass ihn eine Vision heimsuchte. Auch kein Albtraum. Erleichtert antwortete er: »Nur ein schlechter Traum.«
    »Das habe ich gemerkt.«
    Für einen Augenblick schwiegen sie. Sie sahen einander an. Ihre Augen musterten ihn. Tiefe blaue Augen, in denen er sich gerne verlor. Und Chris ließ es zu. Ein überraschender Moment der Zweisamkeit. »Schön, dass du hier bist«, sagte er.
    »Warum folgst du nicht deinem Herzen?«
    »Was meinst du damit?«, fragte er, obwohl er ganz genau wusste, was sie ihm
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