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Die sanfte Hand des Todes

Die sanfte Hand des Todes

Titel: Die sanfte Hand des Todes
Autoren: Abbie Taylor
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Kapitel 1
    »Schwester!«
    Der Ruf kam von irgendwo da draußen. Oberschwester Dawn Torridge warf einen kurzen Blick zur Tür. Wahrscheinlich brauchte jemand ein Glas Wasser oder den Nachtstuhl. Clive und Elspeth waren auf der Station unterwegs. Einer von beiden würde sich darum kümmern.
    Sie wandte sich wieder ihrer Patientin zu.
    »Alles in Ordnung, Mrs. Walker?« Dawn lächelte die alte Dame an, die auf einen Berg Kissen gestützt lag. Sie half ihr beim Trinken, indem sie die Schnabeltasse an ihre Lippen führte und ihren Kopf stützte. »Wie schmeckt Ihnen der Tee?«
    Mrs. Walker war nicht in der Lage zu antworten, aber als sie die dunkelbraune, bittere Flüssigkeit gierig einsog, wusste die Schwester, dass die Erfrischung willkommen war. Draußen unter dem Fenster, sechs Stockwerke tiefer, ratterte ein Zug über die Eisenbahnbrücke, aber hier oben in dem kleinen Einzelzimmer war alles friedlich. Außer dem leisen Keuchen der trinkenden Mrs. Walker und dem steten Piepen der Antibiotikapumpe neben dem Bett war nichts zu hören. Mrs. Walkers Lippen sahen wund und aufgesprungen aus. Wann hatte der Pfleger die Schnabeltasse heute Morgen auf den Nachttisch gestellt, ganz knapp außer Reichweite? Dawn legte eine gedankliche Notiz an. Die Mitarbeiter hatten dafür zu sorgen, dass die Patienten sich selbst bedienen konnten, wenn sie mit Essen oder Trinken allein gelassen wurden.

    »Schwester!«
    Wieder der Ruf von der Station. Irgendetwas stimmte nicht. Dawn hob stirnrunzelnd den Kopf.
    »Schwester!« Nun war die Panik nicht mehr zu überhören. »Hilfe! Kommen Sie schnell!«
    Dawn stellte die Tasse hastig auf dem Nachttisch ab.
    »Einen Moment, bitte«, sagte sie zu Mrs. Walker und eilte zur Tür.
    Clive und Elspeth waren nirgendwo zu sehen. In der Mitte des lang gezogenen Krankensaals mit der hohen Decke und den durch blaue Vorhänge voneinander getrennten Betten kniete ein Mann rücklings auf seiner Matratze. Er trug einen braunen Pyjama und verrenkte sich den Hals nach dem Schwesterntresen. Als er Dawn entdeckte, riss er die Arme in die Höhe und begann, wie wild herumzufuchteln.
    »Schwester!« Er stocherte mit dem Finger in die Luft, zeigte auf den Vorhang vor Bett elf. »Da drinnen! Schnell!«
    Dawn war schon im Laufschritt unterwegs. Ihr Verstand ging alle ihr bekannten Informationen über den Patienten in Bett elf durch. Mr. Jack Benson, zweiundsiebzig Jahre alt. Schilddrüsen-OP am Morgen. Als sie vor nicht einmal zwei Stunden bei ihm gewesen war, hatte er einen stabilen Eindruck gemacht.
    »Behalten Sie ihn gut im Auge«, hatte sie Clive, den neuen Pfleger, gewarnt. »Nach einer Schilddrüsenoperation sind Komplikationen nicht selten. Ich muss zu einer Etatkonferenz, aber Sie können mich anpiepen, falls es Probleme gibt. Dann komme ich sofort zurück.«
    Die Etatkonferenz hatte sich länger hingezogen als erwartet, aber weil Dawn nichts von Clive gehört hatte, war sie davon ausgegangen, dass alles in Ordnung war. Als sie sich nun dem Vorhang näherte, ließ das laute Röcheln dahinter ihr Herz schneller schlagen. O nein, bitte nicht. Nicht
das! Sie hatte das Geräusch seit Jahren nicht gehört, aber es hatte sich schon beim ersten Mal unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingeprägt. Dawn packte den Vorhang und riss ihn beiseite.
    Jack Benson saß aufrecht im Bett. Sein Pyjama mit dem hässlichen Muster war weit aufgeknöpft. Die Metallklammern von der Schilddrüsenoperation vom Morgen steckten in seiner Haut wie eine hässliche Frankensteinhalskette. Aber nicht deswegen wich Dawn erschreckt zurück. Mr. Bensons Hals war auf den doppelten Umfang angeschwollen; es sah aus, als hätte man ihm einen dicken, aufblasbaren Reifen um den Nacken gelegt, der ihn würgte und ihm die Luft abschnürte. Der Druck ließ seine Augen hervorquellen. Er hatte sich beide Hände an den Hals gelegt und rang nach Atem.
    Dawn zögerte keine Sekunde und schlug auf den Alarmknopf über dem Bett. Während der schrille Warnton durch die Station hallte, riss sie die Sauerstoffmaske von der Wand und legte sie dem Patienten an.
    »Alles in Ordnung.« Sie zwang sich, ganz ruhig zu klingen. »Atmen Sie.«
    Jack Benson presste sich die Maske mit beiden Händen aufs Gesicht und versuchte panisch, den Sauerstoff einzusaugen. Huuuuh, huuuuuh . Die Plastikmaske beschlug und wurde wieder klar, beschlug und wurde wieder klar. Der Patient starrte Dawn aus weit aufgerissenen Augen an. Er war in Todesangst. Es funktioniert nicht. Tun Sie
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