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Luegen auf Albanisch

Luegen auf Albanisch

Titel: Luegen auf Albanisch
Autoren: Francine Prosse
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Kindheit liegen? Schuld an ihrem zarten Nervenkostüm war das Aufwachsen unter einem System, das die Sowjetunion für zu liberal hielt und sich mit China anfreundete, bis der Diktator beschloss, China sei auch zu liberal, und China sich von ihm lossagte. Schuld war die Nachbarin in Tirana, die abtransportiert worden war, weil ihr Sohn die Dachantenne gedreht hatte, um seinen von einem vollbusigen italienischen Mädchen gesungenen Lieblingssong zu hören. Der Empfang war zu schneeig, um etwas sehen zu können, aber der Ton reichte aus, seine Mutter am helllichten Tag wegzuschleppen. Das war eine von Lulas frühesten Erinnerungen. Alle hatten Angst. Ihr Vater war eines Abends abgeholt worden. Aber am nächsten Tag war er wieder nach Hause gekommen.
    Auch wenn Lulas Einwandererstatus einstweilen gesichert war, hatte sie das Gefühl, ihre Zukunft hänge von dem Lügennetz ab, das sie bei ihrer ersten Begegnung mit Mister Stanley zu knüpfen begonnen hatte. Schuld war Mister Stanley, weil er ihr eine Frage gestellt hatte, die er selbst hätte beantworten können, obwohl sie wusste, dass jeder zukünftige Arbeitgeber sie das auch fragen würde.
    »Warum haben Sie Albanien verlassen?«
    Sie hatte in ihren Frappuccino geschaut. »Hören Sie, Mister Stanley, Sie müssen das verstehen.«
    »Nennen Sie mich Stanley.«
    Natürlich. Stanley. Mister Stanley müsse verstehen, dass in dem Teil Albaniens, in dem Lula aufgewachsen sei, Blutrache immer noch generationenlang wütete. Vergeltungsschläge. Brautentführungen. Die albanische Vorstellung von Brautwerbung bestehe immer noch darin, sich die Frau über die Schulter zu werfen und zu vergewaltigen. Lulas Vetter George sei in so einen Fall verwickelt worden. Das Paar habe sich in einer Höhle versteckt, die Verwandten des Mädchens versperrten den Ausgang mit Steinen, und das Liebespaar sei erstickt. Lula habe es für gescheiter gehalten, auszuwandern, solange sie noch weiter unten auf der Abschussliste gestanden habe.
    »Großer Gott«, hatte Mister Stanley gesagt.
    Also war es tatsächlich seine Schuld, auf so eine Geschichte reinzufallen. War er nicht Professor gewesen? Hätte er es nicht besser wissen sollen? Sie hatte wirklich einen Vetter, der George hieß. Aber die Geschichte hatte sich zu Zeiten ihres Ur-Urgroßvaters abgespielt, als die Familie noch auf einem Berggipfel in Shkodra im selben Raum mit ihrem Esel schlief. Ihr gegenwärtiger Vetter George war einer der großen Mercedes-Händler in Tirana, und wenn sie sich ihn versteckt in einer Höhle vorstellte, sah sie ihn wegen schlechten Handyempfangs brüllen und die Schuld auf seine Frau schieben, die wie eine fettere, ältere Donatella Versace aussah. Außerdem hielt niemand eine Frau oder ein Kind der Kugeln und Feindseligkeit für wert. Das Blut einer Frau war weniger wert als das eines Mannes. Heutzutage drehten sich alle Blutfehden um Immobilien. Sehr unromantisch.
    Mister Stanley sollte nach Albanien fahren, wenn er sich fragte, warum sie das Land verlassen hatte. Wer würde Tirana einer Stadt vorziehen, in der halbnackte Models und ihre Börsenmaklerfreunde Mojitos aus Krügen tranken, die mit tanzenden Affen verziert waren? Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Hatte Mister Stanley davon noch nie gehört? Aber Amerika war wie Kommunismus und Postkommunismus in einem. Man hatte nicht materialistisch zu sein, bis man erfolgreich war, danach hatte man praktisch die Pflicht, vor jedem damit zu protzen.
    Die Lüge über die Blutfehde war ein Fehler gewesen. Mister Stanley hatte gefragt, ob solche Blutrache auch hier eingeschleppt werden würde. Lula hatte behauptet, ihr Clan sei abergläubisch, was das Überqueren von Wasser anbelange. Außerdem habe ihre Familie seit Generationen nicht mehr in dem Teil Albaniens gelebt. Ihre Urgroßeltern, mögen sie in Frieden ruhen, seien vom Norden in die Hauptstadt gezogen, wo Lula Englisch an der Universität studiert hatte. Als ihre Eltern im Kosovo festgesessen hätten, sei Lula auf der Uni in Tirana geblieben. Nachdem sie im Krieg umgekommen seien, habe Lula ihren Abschluss gemacht, habe bei ihrer Tante und ihrem Onkel gewohnt und weiteren Englischunterricht genommen, bis sie sich überlegt hatte, was sie als Nächstes tun wolle.
    Mister Stanley hatte sie zu ihrem Englisch beglückwünscht. »Diese Geschichte über die Höhle … die sollten Sie aufschreiben«, hatte er gesagt.
    »Das könnte ich tun, wenn Ihr Sohn in der Schule ist«, hatte Lula
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