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Luegen auf Albanisch

Luegen auf Albanisch

Titel: Luegen auf Albanisch
Autoren: Francine Prosse
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jetzt hatte sie etwas Solides. Wände, ein Dach. Mauern um sich herum. Man sollte vorsichtig mit dem sein, was man sich wünschte.
    Manchmal fuhr Lula am Wochenende in die Stadt. Den fröhlichen Paaren beim Einkaufen, den kichernden Freundinnengruppen musste sie sehr einsam vorkommen. Manchmal hatte sie das Gefühl, sie lachten sie aus. Eine Fremde in einer fremden Welt. Sie war immer froh, nach New Jersey zurückzukehren.
    Ein anderes Problem mit Lügen war, dass sie sich so oft bewahrheiteten. Da die Stadtbücherei einer der wenigen Orte war, die sie zu Fuß erreichen konnte, war sie jetzt tatsächlich zur Leseratte geworden. Sie hatte unter Albanien nachgeschaut und Stunden damit verbracht, die Romane von Ismail Kadare zu lesen, dem bedeutendsten Schriftsteller ihres Landes, dessen Bücher sie bisher nur zu lesen vorgegeben hatte. Sich vorzustellen, wie die Wörter auf Albanisch gelautet hatten, war gut für ihr Englisch. Da Lula in Mister Stanleys Haus noch nie einen Brief bekommen hatte – ganz zu schweigen von einer Stromrechnung oder so –, konnte sie keine Lesekarte beantragen. Aber nachdem sie jetzt ein Arbeitsvisum hatte, könnte sie es erneut versuchen.
    Außerdem hatte sie zu schreiben begonnen, eine weitere wahr gewordene Lüge. Zeke erlaubte ihr, seinen Laptop zu benutzen, wenn er in der Schule war. Sie hatte ihm versprechen müssen, nicht in seine Ordner zu schauen. Gerührt von seinem Vertrauen, erwähnte sie nie die hübschen Mädchen, die Zeke in den Pop-up-Fenstern baten, wieder mal von sich hören zu lassen. Wer wusste, ob sie tatsächlich so aussahen oder für wie alt sie Zeke hielten? Lula surfte im Internet nach Luxusgütern – Gartenmöbeln, Duftkerzen, Motorbooten –, die sie sich nie kaufen würde, bewertete Reiseberichte über Orte, an die sie nie reisen würde.
    Schließlich klemmte sich Lula dahinter und schrieb eine Geschichte auf Englisch, mit Hilfe eines Wörterbuchs und eines Thesaurus, den sie in Zekes Zimmer fand. Auf dem Vorsatzblatt stand eine Widmung. »Für Zeke. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag von Mom, mögen Wörter dir Flügel verleihen!« Welche herzlose Hexe schenkte einem Teenager einen Thesaurus zum Geburtstag?
    Ohne allzu angestrengt nachzudenken, schrieb Lula eine Geschichte über die Blutfehde zu Zeiten ihres Ur-Urgroßvaters. Ihren Vetter George machte sie zum Bruder des Bräutigams und fügte einen langen, poetischen Absatz über die eingemauerte Braut hinzu, Stein für Stein. Außerdem ging es viel um Flinten, was ihr nicht schwerfiel, da ihr Vater ein Waffennarr gewesen war, und dann noch jede Menge Folkloristisches, Flüche und Sprichwörter, die sie in albanischen Onlineforen fand. Sie fügte alles ein, bis auf den Soundtrack albanischer Volkslieder.
    Mister Stanley gefiel ihre Geschichte so sehr, dass sie Teil des Pakets für Don Settebello wurde, der nun ihren Fähigkeiten auch noch Schriftstellerin hinzufügte, zusammen mit Übersetzung und Frühpädagogik. Unabhängig voneinander, oder vielleicht nicht ganz so unabhängig, schlugen Mister Stanley und Don ihr vor, ein Buch zu schreiben. Lula konnte sich nicht vorstellen, warum ein Land jemanden aus einer langen Linie von Bluträchern als Mitbürgerin haben wollte. Um etwas zu ihren Gunsten auf die Waagschale zu legen, schrieb sie eine traurige Geschichte über den Tag, an dem sie erfuhr, dass ihre Eltern bei dem Nato-Bombardement umgekommen waren.
    »Das tut mir so leid«, sagte Mister Stanley.
    »Ist schon gut«, versicherte ihm Lula.
    Es stimmte, sie waren im Krieg umgekommen. Was war schon dabei, dass sie in Wahrheit nicht im Kosovo festgesessen hatten, als der Krieg ausbrach, sondern sich erst über die Grenze schlichen, als er fast vorbei war? Tausende Flüchtlinge waren aus dem Kosovo nach Albanien geflohen, vor den Serben und vor der Nato. Nur ihr verrückter Vater hatte das Auto seines Bruders geklaut und war, aufgeheizt durch Alkohol und fehlgeleiteten Patriotismus, zusammen mit ihrer Mutter in die falsche Richtung gefahren. Seine kosovarischen Brüder brauchten ihn! Ihr Vater hatte sich in den Kopf gesetzt, dass die UÇK, die Befreiungsarmee des Kosovo, seine Sammlung alter Stammesflinten brauchen konnte. Was war schon dabei, dass sie keinem Nato-Bombenangriff zum Opfer gefallen waren, sondern einem Autounfall, und ihr Vater betrunken am Steuer gesessen hatte? Sie waren gegen einen Nato-Panzer geprallt. Lulas persönliche Meinung war, dass sich ihr Vater auf einem Himmelfahrtskommando
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